Ein bisschen Schnee liegt noch im kargen Wald. Es knistert. Zwei Elche liegen und kauen. Was genau? Das wüsste wohl ein Tierkenner. Sicher ist: Elchen beim Snacken in der Natur zuzuschauen, ist ganz gemütlich.
Und irgendwie wird’s einem bei der Gewissheit wohlig, dass hier nicht mehr viel gehen wird. Ausser ein paar Elche im Schneckentempo gen Süden.
«So nah wart ihr der Natur noch nie», wirbt RTL+. In einem 24-Stunden-Livestream zeigt der Privatsender zwei Wochen lang «Die grosse Elchwanderung». Nach den Wintermonaten machen sich Elche in die Schweden nämlich auf ins Landesinnere, um Futter zu suchen. 32 Kameras begleiten die Tiere dabei.
Erstaunliche Elchwanderung
Als «grösstes Naturspektakel der Welt» verkauft es der Sender, zu dem Superlative gehören. Explosive Nachrichten, sexy Dating-Shows oder Soap-Operas – das passt zu RTL. Aber Slow-TV mit Tieren?
«Gerade in hektischen Zeiten suchen die Menschen auch im Streaming nach Entspannung», sagt eine RTL-Sprecherin. Der Sender biete mit dem Live-Event den Zuschauenden einen «Ausgleich zum hektischen Alltag» und wolle mit dem besonderen Programm «überraschen und für Gesprächsstoff sorgen».
Neu ist das nicht: Der öffentlich-rechtliche, schwedische Sender STV zeigt die Elch-Show schon seit 2019 und lockt damit massenweise Zuschauende an. Zusammen mit Geo hat RTL+ nun das Programm übernommen.
Wer hat’s erfunden?
Das Phänomen Slow-TV stammt aus dem hohen Norden. Rune Møklebust, Programmleiter beim norwegischen Sender NRK, wollte 2009 zum Jubiläum der Bergen-Bahn eine siebenstündige Zugfahrt zwischen Bergen und Oslo in voller Länge zeigen. Sein Vorschlag: zu Beginn eine Lachnummer in der Chefetage. Trotz Skepsis konnte er sich durchsetzen. Die Sende-Konkurrenz zeigte gleichzeitig Blockbuster – die Zugfahrt zog beim Publikum aber mehr. Und das in der Primetime.
«Niemand erwartete das», sagte Møklebust 2014 gegenüber «Kulturplatz». Nicht minder erfolgreich waren die Slow-TV-Shows, die folgten; 18 Stunden Lachsfischen, 12 Stunden Feuermachen, 134 Stunden Schifffahrt entlang der norwegischen Küste. Bei letzterer schalteten sich zeitweise 3 von 5 Millionen Norwegern zu. Eine Wahnsinns-Einschaltquote. Warum? «Slow-TV bietet Entspannung und Authentizität. Es ist ungestellt und ungeschnitten», meinte Møklebust.
Die Lust an der Langsamkeit packte auch den Rest der Welt. Slow-TV wurde zum medialen Trend. Ein paar Beispiele: BBC nahm das Publikum an Bord auf eine Busreise, France 4 begleitet einen Mann, der rückwärts (!) durch Tokio ging oder die isländische Band Sigur Rós, die in 24 Stunden einmal um die Insel fuhr.
Auch SRF liess an Heiligabend 2016 bis 2018 sein «Füür» knistern – und setzte 2020 und 2021 mit einer Slow-TV-Serie Fische im Zoo Basel oder auch einen Hundesalon in Szene – oder eben nicht.
SRF-Programmplaner Daniel Däuber erinnert sich: «Durch die Pandemie – und den Live-Sport, der auf SRF 2 plötzlich wegfiel – hatten wir Platz für neue Ideen und Formate.» Und die Zuschauer wohl auch genügend Zeit, um fernzusehen.
Und heute? Die Küchenpsychologin vermutet: Slow-TV ist eine Art Pausenknopf im hektischen Alltag. Ein bisschen darf gehen, aber bloss nicht zu viel.
Und wer beim Slow-TV doch ein klein wenig Action sucht: 20 Elche der «Elchshow» tragen anscheinend einen GPS-Sender. Ob da vielleicht doch noch einer versucht auszubüchsen?