Das grosse weisse Backsteinhaus sieht tadellos aus. Aber der Schein trügt. Besitzerin Marjolein van Berkum zeigt auf das riesige Büchergestell im Wohnzimmer, das eine eklatante Schräglage aufweist: «Es sieht aus, als ob wir die Tablare schief aufgehängt hätten – dabei haben sich beim letzten Erdbeben die Balken bewegt», erklärt die 58-Jährige.
Das Ehepaar Van Berkum wohnt in Wirdum, einem 12’000-Seelen-Ort, der sich eine halbe Zugsstunde östlich der Provinzhauptstadt Groningen im Epizentrum des Erbebengebietes befindet. Ein paar Kilometer südlich wurde Ende der 1950er Jahre ein gigantisches Erdgasfeld entdeckt.
Seit den 1990er Jahren bebt die Erde
Ab 1963 pumpte die NAM, die Niederländische Erdölgesellschaft (ein Konsortium von Shell und Exxon Mobile), den flüchtigen Bodenschatz im Auftrag der Regierung nach oben. In den 1990er Jahren gab es erste Berichte von Erdbeben.
Anfangs dieses Jahrhunderts nahmen Anzahl und Stärke zu. Inzwischen waren so viele Häuser beschädigt, dass die NAM einen Zusammenhang zwischen ihrer Bohrtätigkeit und den Beben nicht mehr abstreiten konnte.
Richtige Hilfe bleibt aus
Trotzdem machen die Schadenexperten den Geschädigten das Leben schwer. Marjolein van Berkum verdreht die Augen, wie die meisten im Erdbebengebiet wenn die Rede auf die NAM kommt. Vier Jahre lang habe sie auf adäquate Hilfe warten müssen, klagt sie.
Danach hatte sie Wochen lang Bauarbeiter im Haus. Sie zogen die Innenmauern neu auf und stützten die Fassade mit spiralförmigen Eisenträgern. In einer zweiten Phase wurde das Dach repariert.
Ein Drittel der Häuser beschädigt
Aber die Erde bebte weiter. Anfangs dieses Jahres stellten Experten fest, dass inzwischen das ganze Haus aus dem Lot geraten sei und sämtliche Böden und eine Anzahl Zwischenmauern ersetzt werden müssten. Seitdem wartet das Ehepaar verzweifelt auf Bericht, wann diese Bauarbeiten endlich erledigt würden.
80'000 Schadensmeldungen sind bisher eingegangen. Ein Drittel aller Häuser in den zehn Dörfern im Bohrgebiet sei in Mitleidenschaft gezogen oder gar unbewohnbar erklärt worden, erklärt Jelle van der Knoop, der Präsident der Groninger Bodenbewegung, die den Erdbebengeschädigten tatkräftig zur Seite steht. Die NAM beziffert den Gesamtschaden mittlerweile auf 8 Milliarden Euro.
Im Stich gelassen
Marjolein van Berkum seufzt tief: «Wir sind eine zu kleine Gruppe.» Wenn die Häuser in Amsterdam oder Den Haag so stark beschädigt worden wären, hätten längst alle Zeter und Mordio geschrien und wäre gehandelt worden, sagt sie bitter.
Tatsächlich fühlt sich die Mehrheit der Menschen in diesem dünn besiedelten Bohrgebiet im Nordosten der Niederlande im Stich gelassen. Auch wenn die Regierung in Den Haag unterdessen verfügt hat, dass sie die Schadensabhandlung übernimmt für alle Zerstörungen, die nach dem 1. April 2017 aufgetreten sind.
Gashahn per 2030 abstellen
Ausserdem will das Kabinett den Gashahn per 2030 definitiv zudrehen. Es geht davon aus, dass dadurch die Erde weniger beben und es demzufolge weniger Schäden geben wird. Ob diese Rechnung aufgeht, bezweifeln viele Experten.
Der Regierungsbeschluss bedeutet ein Umdenken. Fast das ganze Land ist auf Erdgas eingestellt, jetzt sind Alternativen wie Sonne, Wind, Erdwärme und andere nachhaltige Energieformen gefragt.
Fehlende Installateure
Um diese Wende zu realisieren, müsse in den nächsten 12 Jahren enorm viel passieren, sagt Andy van den Dobbelsteen, Professor für Klimadesign und Nachhaltigkeit an der technischen Universität Delft. Es gelte, die bestehenden Häuser und Gebäude radikal zu renovieren und mit elektrischen Systemen, einer Wärmepumpe und Solarmodulen auszustatten, erklärt der Energiefachmann.
Das dafür notwendige Geld sei vorhanden. Aber, fügt er an: «Es braucht viele Fachkräfte, die jetzt noch fehlen.»
Erdgas ist sehr profitabel für die Niederlande. Aber die Bohrungen lösen Erdbeben aus. Die Geschädigten verzweifeln.