Erste Volksinitiative - 130 Jahre Schächtverbot: Zwischen Tierschutz und Judenhass
Seit 1893 dürfen Tiere in der Schweiz nicht mehr rituell geschlachtet werden. Das Schächtverbot war von antisemitischen Parolen begleitet – aber auch vom noch neuen Tierschutzgedanken.
Gleich zu dritt mussten sie vor Gericht antraben. Drei jüdische Metzger aus Baden, angezeigt vom Aargauischen Tierschutzverein «betreffend Thierquälerei durch Schächten», wie dem Originaldokument zu entnehmen ist. Sie hätten einem Ochsen besondere Schmerzen zugefügt. Und auch sonst wiederholt rituell geschlachtet. Das war im Jahr 1887.
Was bedeutet Schächten?
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Schächten leitet sich vom hebräischen Wort «schachat» (schlachten) ab und bezeichnet das rituelle Schlachten eines Tieres. Das Rind, Schaf oder Huhn wird gemäss den jüdischen Religionsgesetzen mit einem speziellen Messer per Halsschnitt getötet. Ziel ist, dass das Fleisch möglichst rasch und vollständig ausblutet und damit koscher ist.
Von Schächtgegnern kritisiert wird vor allem, dass das Tier vor dem Schlachten nicht betäubt wird, also bei Bewusstsein ist. Auch das Schlachten nach islamischem Ritus kennt ähnliche Vorgaben, damit das Fleisch als halal gilt. Allerdings haben islamische Organisationen in der Schweiz die Betäubung der Tiere vor dem Schlachten als islamkonform anerkannt.
Die Aargauer Oberrichter verurteilten die jüdischen Metzger zu einer Busse. Bis zur Abstimmung über das Schächtverbot 1893 sollten noch sechs Jahre vergehen. Doch das Urteil enthielt schon alle Zutaten für den gehässigen Abstimmungskampf.
Im Aargau prallen Welten aufeinander
Es ist kein Zufall, dass die Wurzeln des Schächtverbots auch im Aargau liegen. Hier waren die Tierschützer besonders aktiv und hier lebten historisch bedingt die meisten Juden. So liegen unweit der Stadt Baden, wo die drei verurteilten Metzger arbeiteten, Endingen und Lengnau – lange die einzigen jüdischen Gemeinden der Schweiz.
Die Judenemanzipation im 19. Jahrhundert
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Jüdinnen und Juden durften über lange Zeit nur in den Gemeinden Endingen und Lengnau im heutigen Kanton Aargau wohnen. Erst 1866 erhielten sie schweizweit die Niederlassungsfreiheit und mit der neuen Bundesverfassung 1874 auch sonst gleiche Rechte wie christliche Bürger. Die Gleichstellung wird auch Judenemanzipation genannt.
Im 19. Jahrhundert nahm gleichzeitig die Zahl der Jüdinnen und Juden zu. Grund waren auch Vertreibungen im Osten Europas, die viele Juden Richtung Westen flüchten liessen. In der Schweiz war despektierlich von Ostjuden die Rede und mit den ankommenden Flüchtlingen verstärkten sich auch die Ressentiments.
Mitte des 19. Jahrhunderts kam in Grossbritannien der Tierschutzgedanke auf und schwappte bald in die Schweiz über. Etliche Kantone führten Tierschutzgesetze ein. Im Aargau war es ab 1854 verboten, Tiere zu quälen. Beim Schlachten etwa sollten sie «durch den Schlag auf den Kopf des Thieres» zuerst betäubt werden.
Tierschutz trifft Antisemitismus
Für die Jüdinnen und Juden war das Aargauer Tierschutzgesetz ein Problem. Das rituelle Schlachten verlangt, dass ein Tier bei der Tötung bei Bewusstsein ist. Folgerichtig beantragten Endingen und Lengnau eine Ausnahmegenehmigung – und erhielten diese 1855. Sie durften weiterhin schächten.
Damit war der Nährboden für das Schächtverbot, das erst Jahrzehnte später folgen würde, bestellt: Judenemanzipation und Schächtausnahmen einerseits, Tierschutz und Ressentiments gegen Juden andererseits.
Schlachtmethoden im Fokus
Bald wurden in der Schweiz auch die ersten Tierschutzvereine gegründet. Im Aargau war es 1869 so weit. Auslöser waren qualvolle Viehtransporte: Rinder und Schafe, die oft ohne Nahrung über Nacht in Zugwaggons abgestellt wurden.
Die Anfänge des Aargauischen Tierschutzes
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Der Bericht in einem lokalen Blatt «aus der Feder einer in der Nähe des Bahnhofes Aarau wohnenden Dame» führte 1869 zur Gründung des Aargauischen Tierschutzvereins. Die Dame beschrieb darin, wie «ganze Nächte lang das stets matter und matter werdende Schreien von unausgestalltem Eisenbahntransportvieh an das Ohr eines fühlenden Menschen dringt».
Wenig später war der Verein gegründet, mit 163 Mitgliedern. Weniger qualvolle Viehtransporte waren für die Aargauer Tierschützerinnen und Tierschützer jahrzehntelang ein wichtiges Anliegen. In den Jahresberichten ist überliefert, dass der ATS auch immer mal wieder Viehhändler deswegen anzeigte. Daneben setzte sich der Verein aber auch für misshandelte Lastenhunde oder Postkutschenpferde oder auch für Vogelfütterungen ein.
Ab den 1880er-Jahren rückten europaweit die Schlachtmethoden in den Fokus. Stephan Häsler, der sich bei der Vereinigung für Geschichte der Veterinärmedizin engagiert, sagt: «Das Töten der Tiere musste rationeller gestaltet werden.»
Denn die Bevölkerung in den industrialisierten Ländern ass immer mehr Fleisch und wohnte häufiger in Städten, wo sie nicht mehr selbst schlachtete. Schlachthäuser und ihre Methoden wurden in der Folge modernisiert.
Töten im Dienste des Tierschutzes
Das rief wiederum die Tierschützer auf den Plan. Diese setzten auch auf Übungsanlagen, die aus heutiger Sicht befremden: Im Jahr 1883 etwa trafen sich in Wien Tierschützer aus ganz Europa und liessen Probeschlachtungen durchführen. Sechs Ochsen wurden auf unterschiedliche Art getötet. Die Frage: Welcher leidet am meisten?
Die Antwort schien laut dem Kongressbericht schnell gefunden: Ochse Nummer 6, der geschächtet wurde, das heisst ohne Betäubung auf den Rücken geworfen und mit einem Kehlschnitt getötet, habe ganze 11 Minuten leiden müssen.
Als eine «grausame und unnöthige Quälerei», bezeichnete der Deutschschweizerische Tierschutzverein das Schächten in einem späteren Bericht.
Die Aargauer machen Ernst
Das rituelle Schlachten wurde auch in Bern, Solothurn oder St. Gallen zum Politikum. Besonders umtriebig aber war der Aargauische Tierschutzverein unter seinem Präsidenten Andreas Keller-Jäggi.
Der umtriebige Keller-Jäggi
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Andreas Keller-Jäggi war wohl kaum prädestiniert für Grosses: Er wurde 1845, kurz vor dem Sonderbundskrieg, in der Aargauer Gemeinde Bözberg geboren, in vermutlich ärmste Verhältnisse hinein. Der Vater war ein Knecht, die Mutter eine Magd.
Noch als Jugendlicher zog Andreas nach Aarau und machte eine Lehre auf der Staatskanzlei. Er heiratete Anna Margaretha Jäggi und hatte mit ihr drei Söhne. Wobei das Familienleben kein einfaches gewesen sein dürfte.
Wie das Stadtarchiv Aarau auf Anfrage mitteilt, war Keller-Jäggis ältester Sohn aufgrund einer Behinderung bevormundet; die zwei jüngeren starben noch jung, vor Keller-Jäggi.
«Tierschützer mit Leib und Seele»
Seine Freizeit scheint Keller-Jäggi dem Tierschutz gewidmet zu haben. In Nachrufen wird er als «Tierschützer mit Leib und Seele» und «lebendige Auskunftsstelle» bis ins hohe Alter beschrieben. Jahrzehntelang war er Präsident des Aargauischen Tierschutzvereins und später des Deutschschweizerischen.
Er setzte sich u. a. für bessere Bedingungen beim Viehtransport ein und war – gemeinsam etwa mit dem Zürcher Pfarrer und Tierschützer Philipp Heinrich Wolff – treibende Kraft hinter dem Schächtverbot.
Dabei kam ihm sicher zupass, dass er auch politisch aktiv war. Er war gewählter Stadtrat und verkehrte offenbar auch in höchsten politischen Kreisen. So hatte Keller-Jäggi laut einem Jahresbericht des Aargauischen Tierschutzvereins vor der Lancierung der Initiative «noch eine mündliche Besprechung mit Herrn Bundesrath Ruchonnet gehabt».
Nach der Abstimmung 1893 vermachte Keller-Jäggi eine grosse Nachlasssammlung mit Zeitschriften und Dokumenten zum Schächtverbot dem Staatsarchiv Aarau. 1925 starb er im Alter von 80 Jahren.
Mitte der 1880er-Jahre beschlossen die Aargauer Tierschützer zwei folgenreiche Massnahmen, wie den Jahresberichten zu entnehmen ist: Sie beauftragten ihren Tierschutzinspektor «auf dem Zuchtpolizeiwege» vorzugehen. Und zwar gegen Schächter, die ausserhalb von Endingen und Lengnau rituell schlachteten. Eine dieser Strafanzeigen wird auch die drei jüdischen Metzger in Baden vor Gericht bringen.
Schächt-Initiative wird lanciert
Gleichzeitig regten die Aargauer beim Dachverband, dem Deutschschweizerischen Tierschutzverein, an, die «geeignet scheinenden Schritte» für eine eidgenössische Regelung einzuleiten. Die Idee eines nationalen Schächtverbots war lanciert und wurde später offiziell beschlossen, «gestützt auf die Erfahrungen des aargauischen Thierschutzvereins in der Schächtfrage».
Von Schächten war in der Initiative keine Rede. Stattdessen sollte ein «Verbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung» in die Bundesverfassung geschrieben werden. Die Unterschriften waren schnell gesammelt. Die meisten kamen in Bern und im Aargau zusammen.
Es folgte ein Abstimmungskampf, der von vielen antisemitischen Tönen begleitet war. Ulrich Dürrenmatt etwa, der Grossvater des berühmten Friedrich, hetzte mit klar judenfeindlichen Voten in seiner «Berner Volkszeitung».
Die antisemitische Färbung
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Die Debatte ums Schächtverbot 1893 kannte verschiedene Argumentationslinien: Die erste war der Streit darum, wie qualvoll das Schächten für Tiere tatsächlich ist. Das sei damals wissenschaftlich nicht eindeutig gewesen, sagt Veterinärmediziner Häsler. Entsprechend entbrannte ein Gutachter-Streit. Heute sei klar, so Häsler, dass das Schächten ohne Betäubung für die Tiere einen zusätzlichen Schmerz bedeute.
Ein zweites Argument, das die Schächtgegner ins Feld führten und das sich auch in Schriften und Referaten der Tierschutzvereine findet: Das Schächten sei gar kein religiöser Kultus und etwas Fremdes. Historiker Thomas Metzger wertet dies als klar antisemitisch: Die Initianten hätten sich erdreistet, dem Judentum zu erklären, was jüdischer Kultus sei, und Jüdinnen und Juden würden als fremd, unschweizerisch und unmoralisch dargestellt.
Mit dem Fokus auf eine religiöse Minderheit sieht Metzger auch Parallelen des Schächtverbots zur Minarettverbot-Initiative von 2009.
Premiere einer Volksinitiative
Am 20. August 1893 kam das Schächtverbot dann – als allererste eidgenössische Volksinitiative – zur Abstimmung. 60 Prozent des Schweizer Stimmvolkes legten ein Ja in die Urne. Im Aargau waren es über 90 Prozent.
Die Anfänge der Schweizer Volksinitiativen
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Die Schweiz durchlebte im 19. Jahrhundert turbulente Zeiten: Nach dem Sonderbundskrieg wurde 1848 der Bundesstaat gegründet. In den Jahren danach gab es viele erste Male: Von der Einführung des Schweizer Franken als eidgenössische Währung bis zu einem einheitlichen Mass- und Gewichtssystem, das in allen Kantonen galt. Die Idee, nicht nur die Bundesverfassung als Ganzes ändern zu können (Totalrevision), sondern auch einzelne Artikel (Teilrevision), stiess lange auf Widerstand und wurde erst 1891 eingeführt. 50'000 Unterschriften waren damals nötig, um ein Begehren an die Urne zu bringen.
Das Schächtverbot sollte mit der Abstimmung am 20. August 1893 den Auftakt machen. In den Jahrzehnten danach wurde das Instrument nur selten eingesetzt: 1908 folgte das Absinthverbot, 1918 die Proporzwahl des Nationalrates. Erst ab den 1980er Jahren nahm die Zahl zu, denn die Parteien hatten die Volksinitiative als politisches Instrument entdeckt.
Die Deutung des Abstimmungsresultates sei komplex, sagt Historiker Thomas Metzger, Professor an der PH St. Gallen. Festzustellen sei aber: Je aktiver die Tierschutzvereine und die lokale Presse für ein Schächtverbot geweibelt hatten – wie etwa im Aargau, aber auch in Zürich oder Bern –, desto deutlicher wurde die Initiative angenommen.
Das Schächtverbot gilt bis heute
In den 130 Jahren seit der Abstimmung tauchte das Schächtverbot mehrfach wieder auf dem politischen Parkett auf. In den 2000er-Jahren etwa führten Forderungen nach einer Legalisierung des Schächtens – und Gegenforderungen, den Import von geschächtetem Fleisch zu verbieten – zu hochemotionalen Diskussionen.
Heute ist das Schächtverbot nicht mehr in der Verfassung, aber im Tierschutzgesetz verankert und gilt mit Ausnahme von Geflügel noch immer. Es ist auch ein Vermächtnis des Aargauischen Tierschutzvereins.
Dieser existiert noch immer – kümmert sich heute aber vor allem um Klein- und Haustiere.
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