Ausgerechnet Menschen, die vordergründig für Unterdrückte oder eine gerechtere Welt kämpfen, bedienen sich antisemitischer Klischees: Die Mär vom geldgierigen Juden taucht auch bei Globalisierungsgegnerinnen und Gegnern auf. Links- wie rechtsextreme Blogs hypen antijüdische Verschwörungstheorien. Und die mittelalterliche Lüge von «den Juden als Brunnenvergiftern» grassiert wie eine Pandemie.
Talmud, Freud und Philosophie
Das steht nicht in einem weiteren Antisemitismusbericht, sondern in Delphine Horvilleurs 130-Seiten-Essay. Die Rabbinerin ergründet das Phänomen tiefgründig und kreativ, gerade auch als liberale Feministin. Horvilleur analysiert die Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden mithilfe von Talmud, Freud und französischer Philosophie.
So seien Juden schon vom römischen Reich als diejenigen bezeichnet worden, die nicht mitmachten. Sie verweigerten dem Gottkaiser die Huldigung und damit ihre Loyalität. Das werde ihnen bis heute angehängt.
«Der Jude»
«Der Jude», schreibt Horvilleur ganz bewusst, um die antisemitische Fiktion des Begriffs zu markieren. «Der Jude» sei quasi der unangepasste Mensch schlechthin. Er stört die vermeintliche «Einheit» eines Volkes, einer Bewegung oder sonst eines grossen «Wir». Einmal mehr hat Antisemitismus also weniger mit Juden selbst als mit Antisemiten zu tun.
Verschiedenste Gruppenideologien nutzen «die Juden» als Abgrenzungsfläche, um sich selbst zu definieren, gleichsam «indentitatorisch». So entstehen erst «wir» und «sie».
Auch in der aktuellen Rassismus-Debatte taucht dieser Mechanismus wieder auf: So stellen gewisse People-of-Colour-Aktivistinnen in einem Artikel (tachles, Juni 2020) die Frage: «Sind Juden weiss?».
Also: Gehören «die» Juden nun zu «uns», den Opfern von Rassismus, oder zu den kolonialistischen Tätern? Schon die Frage sei falsch, sagt Horvilleur. Menschen seien Individuen. Weder historische Schuld noch Opfersein sollten sich kollektiv vererben.
Plädoyer für die Freiheit
Demgegenüber verteidigt die Französin Delphine Horvilleur das Recht jedes Menschen auf Individualität. Ihr Essay ist gleichsam ein grosses Plädoyer für die Freiheit des Individuums, des Ich.
So wehrt sich die französische Rabbinerin gegen alle übergriffigen Fremdzuschreibungen. Auch gegen scheinbar wohlmeinende Vereinnahmungen, also «Wir-Machungen»: kommen diese von feministischer Seite, von jüdisch-orthodoxer oder auch von israelischer Seite.