Wir befinden uns inmitten einer hochinteressanten Debatte, meine Damen und Herren, ach, was sage ich: eines riesigen Experiments. Darin erleben wir, wie heikel und unproduktiv die Anwendung von Moralisierungen ist.
Moralisierungen sind, philosophisch betrachtet, Kategorienfehler oder Übergriffigkeiten, bei denen moralische Prinzipien oder Erwägungen auf Bereiche angewendet werden, in denen sie nicht relevant oder angemessen sind. Kurz: Sie haben dort nichts zu suchen. Beispielsweise in den Sphären der Gesundheit oder Kunst oder in lebenspraktischen Domänen wie Ernährung und Mobilität.
Die Moral in der Geschicht'
Bereits von Immanuel Kant kennen wir die Zurückweisung der Moralisierung moralisch indifferenter Sachverhalte, fachsprachlich «Adiaphora» genannt. Und wir alle erleben täglich, dass immer mehr Phänomene zu einer moralischen Angelegenheit aufgeladen werden, die keine sind: Schönheit, Reichtum, Sprache, Dekarbonisierung.
Ich verrate Ihnen auch, wo ganz aktuell, wenn nicht alle, so doch viele Fäden dieser Moralisierungsstränge zusammenlaufen. Alles kreuzt sich in unseren Tagen in diesem einen Phänomen: GLP-1-Rezeptoren-Agonisten. «Wie bitte?», höre ich Sie fragen. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht wissen Sie längst Bescheid. Das Thema ist in aller Munde.
Der Hype um die Spritze
Wir sind alle schon versiert in der neuen Diktion des pharmakologischen Fortschritts, und wenn Sie noch nicht ganz sicher sind, versuche ich es mal mit folgenden Markennamen: Ozempic, Wegovy und Mounjaro.
Das sind Medikamente, ursprünglich (und immer noch) zur Behandlung von Typ-2-Diabetes. Medikamente, die inzwischen ihre eigenen Hashtags haben. Die im Zentrum einer Aufmerksamkeit und Aufregung stehen wie zuletzt Viagra oder Botox zu Anfang des Jahrtausends, aber inzwischen sind eben die sozialen Netzwerke dazugekommen. Und das sind nicht zuletzt Moralisierungsmaschinen.
Denn diese Medikamente, die auf den Blutzuckerspiegel wirken, haben den Nebeneffekt einer drastischen Gewichtsabnahme. Der inzwischen zum Haupteffekt geworden zu sein scheint. Jedenfalls in einer moralisierenden Auseinandersetzung darüber, wer wann und wie diese Produkte einsetzen dürfe, und wer dafür bezahle.
Scham, Stigma und Status
Die Frage des Körpergewichts wird unzulässigerweise seit jeher moralisierend besprochen; Scham, Stigma und Status werden mit ihr verbunden, und jetzt zeigen sich die Seichtigkeit und Sinnlosigkeit dieser Moralisierungen, denn jetzt scheint quasi der Knopf da zu sein, respektive die Spritze, die man nur drücken muss, und man wird so dünn, wie man es schon immer sein wollte.
Wenn man es sich leisten kann. Denn wer übergewichtig, aber ansonsten nicht krank ist, muss die Spritze selbst bezahlen. Sofern er oder sie an eine Verschreibung kommt. Und ans Produkt. Die Nachfrage übersteigt das Angebot dramatisch.
Wenn die Moral auf dem Teller landet
Die kulturelle Debatte, die entbrannt und jetzt in vollem Gange ist, verschiebt alles. Bisher lauteten die moralisierenden Einwände gegen Übergewicht, dass es das ungesunde Ergebnis eines vorwerfbaren Lebenswandels sei. Und auf der anderen Seite die moralisierenden Einwände gegen ein Körperideal von Dünnsein, dass rigide Diätregimes individuelles Leid verursachten, etwa in Form von von dauerhaftem Verzicht, Angstgefühlen oder schlicht Hunger, und selten zu nachhaltigem Erfolg führten.
Was aber, wenn man neuerdings zur Erreichung seines Idealkörpers einen Schalter umlegen kann, mit nachhaltigem Erfolg und ganz ohne Entsagungsqualen, Angst und Hunger, ohne Fixierung auf Trainingsprogramme und Ernährungspläne, und der Schalter heisst Ozempic?
Dagegen muss die Moralisierung eine Stufe raufschalten, und das tut sie. Denn dem wird nun entgegengehalten, dass diese neuen Möglichkeiten eine grassierende Fettphobie und massenhafte Selbststigmatisierungen noch verschärfen würden, weil damit nur individuelle Körper repariert würden, nicht aber strukturelle soziale Ungleichgewichte.
Ein Fetisch der Philosophie?
Und in einer typischen Volte attestiert dieser neue moralistische Furor seinerseits Moralismus – nämlich der Gegenseite: In einem Gastbeitrag in der «New York Times» schrieb die Philosophie-Professorin Kate Manne, dass Schlanksein nichts anderes verkörpere als moralischen Rigorismus.
Die (westliche) Philosophie fetischisiere als Denkschule das Dünnsein als Vernunft, schliesslich sei ja wohlbekannt, dass als Paradebeispiel für das philosophische Studium der Akrasia, der Willensschwäche, das Schwachwerden bei einem Keks gelte.
Entmoralisierung der Dick-Dünn-Debatte
Legen wir mal den Keks beiseite. Eine entmoralisierte Debatte würde nüchtern feststellen, dass die neuen Medikamente nicht nebenwirkungsfrei sind, besonders wenn sie nicht unter ärztlicher Aufsicht eingenommen werden. Seltene, aber ernste Nebenwirkungen können in Schilddrüsenkrebs, Pankreatitis und Nierenschäden bestehen.
Weniger schwerwiegende, aber dennoch belastende Nebeneffekte sind Übelkeit, Erbrechen und Herzrasen, alles ausführlich auf TikTok dokumentiert. Dann gibt es noch jenes Phänomen, das unter dem Fachbegriff «Ozempic Face» bekannt wurde: eine Auszehrung durch Fettverlust im Gesicht lässt dieses hager und hohlwangig erscheinen. Dagegen helfen Filler oder zur Not ein Facelift. Kann sich nicht jeder leisten.
Eine entmoralisierte Debatte würde dazu feststellen – etwa bezugnehmend auf den Philosophen Harry Frankfurt –, dass die ökonomische Gleichheit als moralisches Ideal untauglich ist. Weil sich ein solches Ideal nur daran orientiert, was andere haben und dadurch zu einer Selbstentfremdung statt zur Autonomie führt.
Das gewichtige Lob der Freiheit
Eine entmoralisierte Debatte würde ferner feststellen, dass Übergewicht mit Beeinträchtigungen von Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität einhergehen kann, aber nicht muss. Fettleibigkeit, Adipositas oder Obesität hingegen ist eine Krankheit nach dem Standard der Weltgesundheitsorganisation WHO. Das wiederum ändert nichts daran, dass sogar adipöse Personen, deren Gesundheit sich durch Diät verbessern würde, der Gesellschaft einen Gewichtsverlust moralisch nicht schulden. Denn wir leben in Freiheit.
Alle diese Argumente stehen zur Verfügung. Warum wird trotzdem auf Moralisierungen zurückgegriffen? Weil Moralisierungen eine billige Form sind, Zugehörigkeiten zu schaffen. Und die Zeit, in der wir leben, ist fixiert auf Zugehörigkeiten, das Sich-Einordnen in eine Gruppe oder, am besten, das Aufgehen in einer mutmasslichen Identität.
Identitätspolitik, von rechts wie von links, stellt das Kollektiv über das Individuum. Und zwar ein Kollektiv anhand eines im philosophischen Sinne akzidentiellen, also zufälligen Merkmals wie etwa Körperform, Hautfarbe, Nationalität oder Geschlecht. Dieser Zufälligkeit wird zugeschrieben, eine wesensartige, essenzielle Qualität für ihren Träger darzustellen. Das ist – frei nach Harry Frankfurt – «Bullshit». Und deswegen verführerisch.
Man muss nicht mitmachen
Viele Leute scheinen geradezu wild darauf, sich gemäss ihres vermuteten Wesens in die entsprechende Kohorte einzusortieren. Mir fiel auf, dass bei Beiträgen, die moralisierend den Umgang mit Ozempic anprangerten, die Verfasserinnen – in der «New York Times» neben Kate Manne zum Beispiel die Professorin Tressie McMillan Cottom – eine Eigendeklaration vorzunehmen für notwendig hielten, indem sie sich selbst als übergewichtig einstuften.
Wen interessiert das? Es ist nicht relevant. Genauer: Es sollte nicht relevant sein für ihren Standpunkt. Doch spricht aus diesem Begehren, in eine gespürte Gemeinschaft einzurücken, auch eine Sehnsucht nach Autorität. Die politische Philosophin Hannah Arendt nannte das: das Wir-sagen-wollen.
Waffe zur Abgrenzung und Zugehörigkeit
Wie hängt diese Zugehörigkeitssehnsucht mit Moralismus zusammen? Ganz einfach: beide Phänomene bedingen und steigern sich gegenseitig. Der identitätspolitische Mensch fühlt sich verletzlich in die Gesellschaft gestellt. Seine Basis, die Chiffren seiner Existenz, sind nicht Courage, Vertrauen und Diskurs. Sondern Argwohn, Sorge und Angst. Hier wird Moralismus als Waffe eingesetzt. Ihm liegt stets ein negatives Welt- und Moralverständnis zugrunde: Die Welt wird als feindlich aufgefasst und Moralisierungen sind das Mittel der Wahl für Angriff und Abwehr von wahrgenommenen Überschreitungen.
Vor den Kopf gestossen zu werden, ist die natürliche Folge davon, dass man das Haus verlässt.
Eine derart präventive Welthaltung aber, die ständig nach Unausgesetztheit und Schutzräumen verlangt, hat noch die Emanzipation befördert. Noch nie.
Widersprüche zum eigenen Weltbild aushalten
Es gibt in einer freiheitlichen Gesellschaft kein Recht, nicht gekränkt zu werden. Mich kränken ebenfalls zahlreiche Phänomene in meinem Wohlbefinden. Latzhosen, zum Beispiel, egal wie dünn oder dick die Träger sein mögen. Doch ich weiss und akzeptiere: Im öffentlichen Raum können so viele Leute so viele Latzhosen anziehen, wie die Erde nur tragen kann, ohne dass ich irgendwas dagegen unternehmen könnte. Das finde ich zwar schmerzhaft, aber richtig.
Ich darf hier mal kurz daran erinnern: Die Öffentlichkeit besteht aus anderen Leuten. Dick und dünn und sonst wie.
Denn ein Grundsatz freier Gesellschaften lautet, zitiert nach der grossen Freiheitstheoretikerin Fran Lebowitz: «Vor den Kopf gestossen zu werden, ist die natürliche Folge davon, dass man das Haus verlässt.» Das ist geradezu die Definition von «Öffentlichkeit». Ich darf hier mal kurz daran erinnern: Die Öffentlichkeit besteht aus anderen Leuten. Dick und dünn und sonst wie.
Wer das nicht aushält, muss in seiner Komfortzone bleiben. Leider tun genau das immer mehr Menschen. Und leider muss der Mensch heutzutage gar nicht mehr das Haus verlassen, um öffentlich als Moralapostel aufzutreten.
Moral ist, wenn man trotzdem lacht
Es hat immer etwas Primitives, Moral da anzubringen, wo sie nichts zu suchen hat. Aber auch hier hilft uns Hannah Arendt, der wir die Bewusstmachung folgender schlichter Wahrheit verdanken: Man muss nicht mitmachen. Man kann sich darauf besinnen, dass Moral keine Waffe ist. Man kann sich darauf besinnen, dass Moral, die sich zurecht so nennt, auch ein Mittel ist, ein Leben in Güte zu geniessen.
Moral sollte nicht zuletzt eine Tugend des Mitempfindens, der Selbstlosigkeit, des Verzeihens und Wohltuns sein. Der Soziologe Niklas Luhmann beschenkte uns mit dem Aperçu, es sei Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen. Sowie dem Hinweis, die Aufklärung habe zu diesem Zweck den Humor erfunden.
Denn Humor verträgt sich nicht mit Moralismus. Und hat mit Semaglutid und Tirzepatid übrigens gemein, dass man den Pegel ständig auffrischen muss. Sonst gefährdet man den Behandlungserfolg.