«Heute Abend lässt du noch etwas mehr weg als gestern Abend», erinnert sich Andrea Graf zurück an ihre Jugendjahre, in denen die Essstörung begonnen hat. So ging es weiter: «Wenn es mir nicht gelang, weniger zu essen, fiel ich in ein Loch. Wenn es mir gelang, war ich in einer Euphorie. Es musste immer krasser werden.»
Vor allem in der ersten Phase sei es ein Rausch gewesen: «Irgendwann stellt sich die Euphorie nicht mehr ein, aber man muss weiter hungern, damit man ein birebizeli aus dem Loch herauskommt. Ein Teufelskreis.»
Es begann mit einer harmlosen Diät
Gründe, um mit dem Hungern zu beginnen, gab es für die damals 16-Jährige mehrere: «Ich war stämmig, nicht dick, und wollte etwas abnehmen.» Sie war ein Teenager und wollte die Brüste nicht, die zu wachsen begannen: «In unserer übersexualisierten Welt bedeuten Brüste, dass du geschlechtsreif bist. Das hat mich abgestossen, da kam die Abneigung gegen den Körper zum Ausdruck.»
Andrea Graf ekelte sich auch vor dem Überfluss auf der Welt: Hier volle Regale, dort Menschen, die verhungern, weil es am Nötigsten fehlt. Es sei darum auch ein Protest gewesen: «Gegen unsere Überflussgesellschaft, gegen unsere Überfettheit und Übersattheit. Ich habe mich solidarisch gefühlt mit den Hungernden», sagt Andrea Graf.
Essstörungen werden oft chronisch
«Essstörungen werden in unserer Gesellschaft häufig bagatellisiert», sagt die Ärztin Gabriella Milos, die sich seit Jahrzehnten damit befasst: «Man nimmt nicht richtig wahr, dass zum Beispiel die Magersucht eine Krankheit ist, die zum Tod führen kann. Es ist eine der psychiatrischen Erkrankungen mit der höchsten Mortalität.» Gemäss Statistik sterben fünf bis zehn Prozent der Menschen, die an Magersucht (Anorexia Nervosa) erkranken.
Häufig beginne die Krankheit im jungen Erwachsenenalter oder in der Adoleszenz. Doch die Erkrankungen hätten eine grosse Tendenz, chronisch zu werden. Es komme nicht selten vor, dass ein junger Mensch von 22 Jahren schon seit acht Jahren krank sei. Darum sei es wichtig, so früh wie möglich mit einer Therapie zu beginnen, betont Gabriella Milos: «Es lohnt sich immer, eine Therapie zu machen, aber je länger die Krankheit dauert, desto kleiner sind die Erfolgschancen.»
Wenig ist nie wenig genug.
Es gibt auch Fälle, in denen die Krankheit erst viel später auftritt, etwa während der Wechseljahre, wenn sich je nach Veranlagung der Körper verändert und runder und weicher wird. «Aber sehr häufig sehen wir, dass die Leute schon in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter Phasen hatten, in denen das Essen schwierig war.»
Es habe nur im entfernteren Sinn mit einem Schönheitsideal zu tun, das die Betroffenen erreichen wollen, fügt Gabriella Milos an: «Oft sagen Patienten, dass sie gesünder essen wollten und sich mehr bewegt haben. Wenn die Krankheit beginnt, werden diese Aspekte sekundär, die Person ist dann nicht mehr in der Lage, sich normal zu ernähren.» Es entsteht eine Angst vor der Gewichtszunahme.
Ich habe noch immer panische Angst, die Anorexie zu verlieren. Was bin ich denn ohne Anorexie?
Die Betroffenen haben Angst vor der Gewichtszunahme, weil – vereinfacht gesagt – ihr Belohnungssystem im Hirn anders funktioniert als bei Menschen ohne Essstörung. Essen Gesunde ihr Lieblingsessen, können sie es geniessen. Betroffene wie Andrea Graf haben dabei hingegen Schuldgefühle oder das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.
Darum ist es für Betroffene alles andere als einfach, wieder normal zu essen. Die Krankheit habe eine eigene Dynamik, sagt die Ärztin Gabriella Milos: «Wenig ist nie wenig genug.»
Sie kann nicht mit, aber auch nicht ohne Anorexie
Auch Andrea Graf kennt die Angst vor dem Zunehmen – und noch viele weitere Ängste. «Die Anorexie und das Schreiben», sagt die Schriftstellerin, «sind meine beiden Standbeine.» Die Anorexie, eine Krankheit, die tödlich enden kann, als Standbein?
Es sei ein Stand- und ein Fallbein, präzisiert Andrea Graf. In den letzten 44 Jahren sei die Anorexie Teil ihrer Identität geworden: «Das ist ein grosses Problem. Ich habe noch immer panische Angst, die Anorexie zu verlieren. Was bin ich denn ohne Anorexie? Ein jämmerliches Nichts – obwohl ich den anderen Teil meiner Identität als Schriftstellerin habe.»
Kleine Ziele bis zur Besserung
Das sei typisch für Menschen, die chronisch unter einer Essstörung leiden: «Was mache ich, wenn ich die Essstörung nicht mehr habe?» Das höre sie sehr häufig, sagt die Ärztin Gabriella Milos. So gehe es in der Therapie auch darum, eine solche Leere zu füllen.
Ich muss gewisse Essrituale durchführen.
Ein Beispiel: «Wenn eine Patientin sagt, dass sie gerne die Maturität gemacht und studiert hätte, dann ist es wichtig, im Leben dieser Person zurückzugehen. Was hatte sie für Ziele und Vorstellungen?»
Ist die Essstörung sehr schwer, würden auch kleinere Pläne helfen: «Wenn etwa Betroffene sagen, dass sie seit Jahren nicht mehr in den Ferien waren, weil sie sich nicht vorstellen können, spontan etwas zu essen. Weil sie alles planen müssen.» Dann könne das Ziel kleiner sein, wie etwa ein paar Tage wegzugehen. «Das muss man dann sorgfältig planen», sagt Gabriella Milos.
«Wie ein Heroinprogramm für Drogensüchtige»
Das Schreiben ist Andrea Graf mehr als wichtig. Einem geregelten Job kann sie mit ihrer Krankheit nicht nachgehen, sie bezieht – wie viele andere Betroffene mit einem schweren Verlauf – eine IV-Rente.
«Die erste Hälfte des Tages funktioniere ich einigermassen ‹normal›. Ich schreibe, mache eine Runde durch die Stadt, kaufe ein. Esse. Ich habe mein Programm, dass ich mir erlaube. Aber ich muss gewisse Essrituale durchführen.»
Essrituale, Programme: Hinter diesen Worten steckt viel. Mit Essritual meint Andrea Graf ihre Methode, Essen zu sich zu nehmen und dabei mager zu bleiben. Wie genau ihr Ritual funktioniert, wird hier bewusst nicht genannt: Andere Betroffene sollen nicht auf Ideen kommen, die sie sonst nicht gehabt hätten.
Solch ein Essritual brauche einen grossen Teil ihrer Zeit, sagt Andrea Graf: Das erste Essritual gehe von Mittag an bis um etwa drei Uhr. «Danach muss ich schlafen. Dann lese ich oder drehe draussen eine Runde.» Abends gehe es dann weiter mit einem Essritual.
Ich konnte mit dem Essen einigermassen einen Waffenstillstand einrichten.
Eigentlich seien diese Essrituale, wie Andrea es nennt, ein Notventil gewesen, das ihr den Ausweg aus der Ess-Brech-Sucht ermöglicht habe: «Vielleicht kann man es vergleichen mit dem Heroinprogramm für Drogensüchtige. Sie kommen damit nicht von der Sucht los, aber sie können einem geregelten Tagesablauf nachgehen oder einer Arbeit.» Wegen der Essrituale könne Andrea wieder schreiben: «So gesehen ist es ein Fluch und Segen zugleich.»
Ein Waffenstillstand mit der Krankheit
Früher sei ein normales Essverhalten ihr Ziel gewesen: «Ich sehnte mich danach, wieder gesund zu sein.» Aber dieses Ziel sei heute nicht mehr so wichtig: «Ich bin froh, dass ich mit dem Essen einigermassen einen Waffenstillstand einrichten konnte», auch dank der Essrituale. «Ich bin froh, dass ich nicht mehr jede freie Minute ans Essen denken muss.»
Ihre Hoffnung sei das Schreiben: «Wenn ich schreiben kann, spüre ich den Sog nicht so sehr. Es ist der Gegenpol zu meiner Magersucht. Und trotzdem brauche ich die Magersucht, ich kann sie nicht ganz loslassen.»