Der gelernte Automechaniker Cédric Herrou hat sich sein Leben wohl anders vorgestellt, als er mit 23 ins gebirgige Roya-Tal im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Italien zieht. Der Aussteiger entstammt einer akademisch gebildeten und sozial engagierten Familie. Allerdings ist er in Nizza nicht in einem gutbürgerlichen oder gar glamourösen Stadtteil aufgewachsen, sondern im Armenviertel Ariane.
Dort hat Herrou die Not von Randständigen kennengelernt, aber auch die Gleichgültigkeit jener, die daneben ein unbekümmertes Leben führen. Davor flieht er ins gebirgige Hinterland, wo er ein verwildertes Grundstück kaufen kann. Er kultiviert jahrhundertealte Olivenbäume und züchtet Hühner. Einmal pro Woche bringt er Öl, Eier und Pasta zum Verkauf in die Stadt.
Doch 2016 ist es für den damals 37-Jährigen mit dem zurückgezogenen Leben vorbei. Tausende Menschen flüchten über die Grenze aus Italien, um in Frankreich Asyl zu beantragen. Viele stranden im Roya-Tal. Herrou nimmt sie in seinem Auto mit, wenn sie erschöpft und orientierungslos am Strassenrand stehen.
Er versucht, sie trotz Polizeisperren auf seinen Hof zu bringen. Herrou erzählt: «Die Kontrollen sind gezielt (...). Man verlangt nur die Papiere von Personen, deren Aussehen auf eine ausländische Herkunft hinweist. Der Kofferraum wird geöffnet, nicht auf der Suche nach Waffen oder Drogen, nur ‹Migranten› interessieren sie.»
In seinem Buch beschreibt der Bauer, wie Männer, Familien und Jugendliche systematisch daran gehindert wurden, in Frankreich ein Asylgesuch zu stellen. Viele wurden verhaftet und nach Italien abgeschoben. Und versuchten es erneut.
Herrou spricht von einer «Aufnahmekrise»: «Ventimiglia war zu einem kleinen Calais geworden. Zweitausend Menschen schliefen jede Nacht und schissen jeden Morgen unter dem Autobahnviadukt in der Nähe der Kirche. Am späten Nachmittag nahmen sie den Lidl-Parkplatz unter dem schwankenden blau-gelben Schild in Beschlag, ein paar Schritte von der dunkelgrünen Bude des alten Floristen gegenüber dem Friedhofstor. Ein surrealistisches Bild, dieses Nebeneinander von Tod, Exil und Massenkonsum.»
Notgedrungen baut Cédric Herrou sein Grundstück in den nächsten Jahren mit Wohnwagen und Zelten zu einem Flüchtlingscamp aus. Zwar kann er auf Spenden und die tatkräftige Hilfe von Freiwilligen aus dem Tal zählen.
Bald wird er jedoch verhaftet: «Der Bulle liess mich aussteigen, seine Waffe zielte immer noch auf mich», schreibt er. «Drei Männer in Zivil deuteten auf die mit einem Tuch verhüllten Scheiben der Hecktür. Ich versuchte, sie zu beschwichtigen: ‹Es sind Kinder an Bord.› Und die Kinder versuchte ich beim Aufmachen zu beruhigen: ‹No problem, no problem.› Aber natürlich gab’s ein Problem, und meine Passagiere hatten das längst begriffen und schrien.»
Erfolg vor Gericht
Herrou muss sich mehrmals vor Gericht verantworten. Die juristischen Auseinandersetzungen zehren an seinen Kräften.
Schliesslich fallen sie jedoch zu seinen Gunsten aus. Er sei kein Schlepper, der an der Fluchthilfe Geld verdient, lautet das Urteil. Vielmehr handle er humanitär, gestützt auf die «Brüderlichkeit» in der französischen Verfassung.
Der Flüchtlingshelfer äussert sich 2018 im Westschweizer Radio dazu, als die Geschichte seines Engagements im Film «Libre» von Michel Toesca in die Kinos kommt: «Der Verfassungsgerichtshof hat zu unseren Gunsten entschieden. Man muss wissen, dass die Irregularität nur die Verwaltung, den Staat und nicht den Bürger etwas angeht. Man kann unsere Hilfe nicht behindern unter dem Vorwand, dass die Leute irregulär da sind.»
Anklage gegen den Staat
Das Urteil bringt eine Wende. Herrou, seine Unterstützer und Mitstreiterinnen gehen in die Offensive: «Von diesem Moment an haben wir umgekehrt den französischen Staat verklagt, weil er das Asylrecht verletzt, indem er Minderjährige nach Italien in die Illegalität zurückschickt und in Gefahr bringt», so Herrou. «Auch für die Polizisten sind es komplett scheussliche und kontraproduktive Aktionen. Die Menschen kommen trotzdem und werden vom Staat in die Illegalität getrieben, bevor sie ein Asylgesuch einreichen können.»
Der Olivenbauer und Hühnerzüchter erreicht mit diesen juristischen Auseinandersetzungen schliesslich, dass Minderjährige ihr verbrieftes Recht wahrnehmen können, in Frankreich ein Asylgesuch zu stellen und eine vorläufige Unterkunft zu bekommen.
Aufwühlender Zeitzeugenbericht
Der Autor schildert diesen Gang durch die Institutionen der Justiz, aber auch die prekäre Lage und die Traumata von Geflüchteten, die ihm begegnet sind, in Ich-Form, in einer direkten, ungeschönten Sprache. Er schreibt äusserst angriffig, zuweilen auch schonungslos selbstkritisch.
Dabei bedient er sich einer packenden Dramaturgie. Mit seinem Buch legt Herrou einen aufwühlenden Zeitzeugenbericht zur europäischen Flüchtlingskrise vor.