Am Anfang war das Wort. Billy Grahams Wort. Graham gilt als Gründervater der evangelikalen Bewegung. Er war charismatisch, sah gut aus und konnte reden. Und das tat er nicht in Kirchen, sondern in Stadien. Auch in der Schweiz.
Mit seiner weissen Bilderbuchfamilie wurde Graham nach dem Zweiten Weltkrieg zum Inbegriff der modernen USA: wirtschaftlich, kulturell und sozial erfolgreich – und bereit, im Namen Gottes die Welt zu retten.
Glaube als Selbstoptimierung
Heute bezeichnen sich rund 660 Millionen Menschen weltweit als evangelikal. Der Bewegung sei es zu verdanken, dass es weltweit immer mehr Christinnen und Christen gibt, sagt der Soziologe Philippe Gonzalez, der an der Universität Lausanne lehrt.
«Es findet eine Wiedergeburt des Religiösen statt, aber in einer extremen Form», so Gonzalez. Ein Grund dafür sei die Ausbreitung des Islams, der auf manche Jugendliche – nicht nur auf jene mit Migrationshintergrund – eine grosse Faszination ausübe, aber auch die Betonung des Körperlichen: «Ein reiner Geist setzt auch einen reinen Körper voraus, und Gott heilt beides.» Dazu komme finanzieller Wohlstand und eine stabile Familie.
Und tatsächlich: Den Leuten gehe es besser, weil sie Teil einer starken Gemeinschaft seien, so Gonzalez. Es gehe darum, sich selbst zu optimieren. Gleichzeitig sei die Bewegung sehr kapitalistisch ausgerichtet: «Du wirst Möglichkeiten finden, und Gott wird sie dir zeigen.»
Kirchengurus mit Charisma
Die streng hierarchisch strukturierten Kirchen würden oft von charismatischen Männern geleitet, erklärt Gonzalez. Beispiele dafür sind Enoch Adeboye, Führer der Redeemed Christian Church of God in Nigeria. Oder Edir Macedo, brasilianischer Milliardär und selbsternannter Bischof der Igreja Universal do Reino de Deus.
«Sie sind gegen alles, was unsere komplexen Gesellschaften ausmacht», so der Soziologe. Oder anders gesagt: «Wir sind bunt. Evangelikale sind es in der Regel nicht.» Sie sind Bekehrte, erben ihren Glauben nicht von den Eltern, sondern treten aktiv in die jeweilige Gemeinschaft ein.
Die Bibel gilt ihnen als unfehlbar und sie missionieren, das heisst, sie sind überzeugt, ihre Sicht auf die Welt sei die einzig richtige, und die wollen sie verbreiten.
Religion macht Politik
Diese Sicht auf die Welt tragen sie auch in die Politik. So wählten 2016 über 80 Prozent der weissen US-Evangelikalen Donald Trump zum Präsidenten. Doch warum wählen Menschen, die ein konservatives Welt- und Familienbild vertreten, einen Mann, der ihre Werte und moralischen Vorstellungen mit Füssen tritt? «Identität ist in dem Fall wichtiger als Moral», sagt Gonzalez. Am Ende gehe es darum, die weisse Vorherrschaft zu erhalten.
Denn obwohl sie medial sehr präsent sind, bezeichnen sich immer weniger US-amerikanische Weisse als protestantisch oder als evangelikal. «Das Reservoir wird also kleiner, und das führt zu einer Radikalisierung», so Gonzalez.
Das gehe inzwischen so weit, dass Gläubige ihren Pastoren verbieten würden, jene Stelle der Bergpredigt zu lesen, in denen Jesus sagt: «Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.» Das sei Kommunismus. Mit diesem Vorwurf konnte man in den USA schon immer Politik machen.
Billy Graham hätte das gar nicht gefallen. Er strebte eine spirituelle Reform der Gesellschaft an, nicht einen politisierten Evangelikalismus.