SRF: In Ihrem Bericht «The Rise of Fact-Checking Sites in Europe» stellen Sie fest: Mehr als 50 der weltweit 113 als Faktenprüfer tätigen Organisationen sind in den letzten zwei Jahren entstanden. Sind solche Strukturen heute besonders notwendig?
Lucas Graves: Natürlich haben Politiker oft übertrieben und die Wahrheit gedehnt. Wann wie oft gelogen wurde, lässt sich kaum vergleichen. Fact-Checking ist eine Methode, mit der sich der Journalismus an die Möglichkeiten der Neuen Medien und des Internets angepasst hat, ein neuer Weg, auf politische Aussagen zu reagieren.
Gehört es nicht ohnehin zum journalistischen Berufsethos, Informationen vor der Veröffentlichung zu überprüfen?
Doch, natürlich. Das traditionelle, interne Fakten-Überprüfen der Medien und das neue, politische Fact-Checking unterscheiden sich. Im traditionellen Journalismus verifiziert man vor der Veröffentlichung alle Angaben in einer Story. Politisches Fact-Checking dagegen korrigiert Aussagen, die bereits öffentlich im Umlauf sind. Journalisten zweifeln direkt Aussagen von Politikern und anderen öffentlichen Personen an. Die Reporter widersprechen ihnen direkt und hinterfragen Übertreibungen und Falschaussagen.
Man wünschte sich, Journalisten hätten das schon immer getan. Aber manchmal sind politische Fragen sehr vertrackt, und es war bequemer, einfach die Positionen einer Diskussion wiederzugeben. Erst in den letzten Jahrzehnten akzeptierten Journalisten systematisch den Gedanken, dass es Teil ihres Jobs ist, politische Aussagen direkt in Frage zu stellen.
Gefährlicher als die Falschaussagen selbst ist aber die Geringschätzung der Wahrheit.
Weshalb dieses Umdenken?
Die Idee dieser Organisationen, die unabhängig vollzeit Fact-Checking betreiben, tauchte in den USA in den frühen 2000er-Jahren auf. Zum Teil, weil Journalisten erkannten, dass sie 2003 während des Irakkriegs nur halbherzig berichtet hatten. Im Präsidentschafts-Wahlkampf von 2004 gab es dann wirklich haarsträubende Politiker-Aussagen. Journalisten, die fanden, sie seien zu wenig kritisch gewesen, änderten ihre Strategie.
So entstand dieser aufsässigere Journalismus. News-Organisationen begannen mit den einzigartigen Recherche-Möglichkeiten des Internets zu experimentieren. Fact-Checker lassen sich mit Bloggern vergleichen. Sie sind in einem gewissen Sinn die Antwort des professionellen Journalismus auf das Bloggen.
Hat sich im Zuge der Trump-Wahl der Wahrheitsbegriff gewandelt?
Die Art der politischen Lügen scheint sich in den letzten Jahren verändert zu haben. Besonders mit Donald Trump und vielen republikanischen Kandidaten der letzten Primärwahlen. Da wurde die Wahrheit wirklich geringgeschätzt. Nicht nur, dass Donald Trump viele falsche Aussagen macht, er versteckt auch nicht, dass er Dinge wiederholt, von denen er vermutlich keine grosse Ahnung hat. Er gibt etwas von sich und sagt am nächsten Tag, er habe das gar nicht so gemeint. Oder er sagt: «Oh, ich habe das irgendwo im Internet gelesen.»
Gefährlicher als die Falschaussagen selbst ist aber die Geringschätzung der Wahrheit. Sie ist gefährlich für den Gedanken, dass es wichtig ist, die Fakten zu kennen, bevor wir über etwas sprechen oder entscheiden.
Die Strategie, die Presse zu dämonisieren, ist eine grosse Gefahr für die demokratische Diskussion.
Welches sind die Folgen von Donald Trumps Angriffen auf die Medien?
Das ist eine der beunruhigendsten Entwicklungen der US-Politik der letzten Jahre. Wir sind zum Glück noch nicht am Punkt, wo Nachrichtenportalen die Schliessung droht. Jedoch wirken die Attacken auf die Presse wirklich zersetzend und schaden der Idee, dass unabhängiger Journalismus notwendig ist und dass wir gemeinsame Informationsquellen wertschätzen sollten.
Wenn nebeneinander zu verschiedene Medienrealitäten existieren, wird es schwierig, überhaupt einen zusammenhängenden öffentlichen Diskurs zu pflegen. Die Strategie, die Presse zu dämonisieren, ist eine grosse Gefahr für die demokratische Diskussion.
Das Gespräch führte Raphael Zehnder.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 13.03.2017, 09:02 Uhr