«Ich kam rauf über den Grat. Und wusste: es ist nicht mehr weit. Dann fragt man sich: ist es wirklich der Gipfel? Es ist dunkel. Ich habe auf den Höhenmesser geschaut, überlegt. Bin ich wirklich oben? Und ich war oben. Also bin ich wieder abgestiegen.»
So erinnerte sich der verstorbene Profibergsteiger Ueli Steck an die Minuten auf dem Gipfel der 8091 Meter hohen Annapurna. Er hat den Annapurna-Gipfel 2013 ganz alleine über die Südwand erreicht – eine schwierige Wand aus Fels und Eis. Über 2000 Meter hoch. 28 Stunden, nachdem Steck aufgebrochen war, war er wieder unten – in übermenschlicher Zeit.
War er wirklich oben?
Doch war er wirklich oben? Schon bald gab es Zweifel. Steck hatte wegen einer Lockerschneelawine die Kamera in der Wand verloren. Es gab keine Bilder.
Niemand hat ihm zugeschaut, denn er kletterte in der Nacht. Die Debatte um diese Extrembesteigung dauerte noch Jahre an – und beschäftigte Steck auch mental.
Bis heute kann man nicht beweisen, ob Ueli Steck wirklich auf dem Gipfel war. Aufgrund seines Könnens scheint es glaubwürdig. Aber die Beweise fehlen. Die Geschichte des Alpinismus ist voll von solchen Unklarheiten.
Wer stand 1786 zuerst auf dem Mont Blanc? Jacques Balmat oder Michel-Gabriel Paccard? War Cesare Maestri wirklich als erster auf dem Cerro Torre in Patagonien? Höchstwahrscheinlich nicht.
Wie gehen Alpinisten mit Lügen um?
Der Tessiner Journalist und Bergführer Mario Casella hat in seinem neuen Buch «Die Last der Schatten» die «Fake News» der Alpingeschichte zusammengestellt.
Casellas Absicht dabei war nicht, diese Fälle zu lösen. Ihn interessierten die Emotionen. Wie Alpinisten mit falschen Behauptungen und Lügen umgehen. Was für Mechanismen wirken. Wie es ihr Leben danach beinflusst hat.
Die erfundene K2-Besteigung
Am eindrücklichsten zeigt sich das in der Geschichte des österreichischen Alpinisten Christian Stangl. 2010 war er kurz davor, der erste Mensch auf allen «Second Summits» zu sein, allen zweithöchsten Gipfeln der sieben Kontinente. Der K2 fehlte noch. Er gilt als einer der schwierigsten und gefährlichsten 8000er.
Zweimal war Stangl schon gescheitert. Und auch der dritte Versuch scheiterte. Der Österreicher kehrte in der Hälfte um. Sein Druck, den K2 zu besteigen, war so gross, dass er einfach behauptete, den Gipfel erreicht zu haben.
Die Medien berichteten begeistert, doch die Lüge flog schnell auf. Das angebliche Gipfelfoto wurde an einem anderen Tag rund 1000 Meter weiter unten aufgenommen, wie ein anderer Bergsteiger bemerkte.
Stangl gab alles zu und fiel in eine Depression. Er war bereit, sich umzubringen, wählte aber eine andere Option: Er ging zurück zum K2 und erreichte 2012 den Gipfel.
Schon früher wurde im Alpinismus gelogen
Wer denkt, früher sei alles besser gewesen, irrt sich. Casellas Buch zeigt: Angezweifelt wurde bereits die Erstbesteigung des Finsteraarhorns im Jahr 1812. Gelogen wurde sogar noch früher – bei der Erstbesteigung des Mont Blancs im Jahr 1786.
Warum lügen Alpinisten?
Bleibt die Frage: Warum lügen Alpinisten überhaupt? Ein Grund ist der Druck von aussen – der heute durch Social Media und Sponsoren eher zugenommen hat. Oder die Angst, zu versagen. Aber auch Neid und Konkurrenz.
Hinter den Lügen oder «Fake News» aus den Bergen stecken schlussendlich typisch menschliche Züge. Aber die Last, die man sich mit einer Lüge auflädt, trägt auch ein Bergsteiger nicht leichter als ein anderer Mensch.