Für viele Gruppen ist Diversität zur positiv besetzten Chiffre geworden. Ein Gegenentwurf zu den «gestressten grauen Herren»: So zu lesen auf einem Plakat, das im Flur vor Armin Nassehis Büro am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München hängt.
Für den 60-jährigen Soziologieprofessor ist die Forderung nach gesellschaftlicher Diversität zweischneidig. Er sagt: «Die Gefahr besteht, dass Menschen auf ihr Geschlecht, die sexuelle Orientierung oder ihre Hautfarbe reduziert werden, wenn solche Identitätsmerkmale allzu sehr im Vordergrund stehen.»
Kein Weg aus den Widersprüchen
Zum Beispiel Homosexualität: Prinzipiell sei es zu begrüssen, dass Gruppen, die früher verfolgt und diskriminiert wurden, heute durch das Gesetz geschützt seien, sagt Nassehi.
«Aber wenn man weiterdenkt, muss man sich fragen, warum es diesen Schutz überhaupt braucht. Es ist ja paradox zu sagen: ‹Homosexualität ist selbstverständlich – also muss man sie extra schützen.›» Das sei die Gemengelage, aus der man weder als Einzelner noch als Gesellschaft so leicht herauskomme.
Ähnliche Widersprüche ortet Nassehi beim Diskurs über Hautfarben: Wer von sich behaupte, er mache «keinen Unterschied zwischen schwarzen und weissen Menschen», der bestätige gerade durch diese Formulierung den Unterschied.
Ebenso wenn jemand ständig betonen müsse, auch Frauen seien «sehr wohl fähige Führungskräfte». Dann sage er – oder sie – in Wahrheit eher das Gegenteil.
Im Kopf noch die alten Klischees
Nassehis Verdacht: Die Denkmuster haben sich gegenüber früher nicht so stark verändert. Dafür das, was man für «sagbar» hält.
«Kaum jemand getraut sich heute noch, in der Öffentlichkeit diskriminierende Aussagen über Frauen oder Homosexuelle zu machen. Aber praktisch wirken sich Vorurteile und Stereotypien über Geschlechter und auch über Hautfarben stärker aus, als wir denken.»
Jedes Ich inszeniert sich
Auf gesellschaftlicher Ebene halte Diversität also viele Fallstricke bereit. Dem Individuum aber gebe sie mehr Freiheit. «Früher», sagt er, «war der Einzelne sehr stark festgelegt, etwa durch die Standards der protestantisch orientierten Lebensform: ‹Tu deine Arbeit, geh’ beten und dann ins Bett.› Heute hingegen haben wir unzählige Möglichkeiten, uns selbst zu beschreiben und unser Leben zu führen.»
Eine Folge davon ist laut Nassehi eine «Popkultur inszenierter Selbstbeschreibungen», welche durch die sozialen Medien ermöglicht und beschleunigt werde. «Das Individuum steht gerade in grosser Blüte. Wir können uns heute so, morgen anders und übermorgen wieder anders beschreiben.»
Konsum stiftet Identität
Was hält diese Fülle von Selbstbeschreibungen zusammen? «Es sind Konsummöglichkeiten», lautet Nassehis Antwort. Kleider, Autos oder elektronische Gadgets sind für den Soziologen «die Identitätsmarker schlechthin».
«Der Konsum bietet den Leuten Gelegenheit, über sich selbst nachzudenken, ohne dass man dafür in einem philosophischen Hauptseminar gesessen haben muss.» Weil heute niemand mehr die Komplexität der Welt erklären könne, sei der Konsum eine wunderbare Entlastung.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 12.2.2020, 9:02 Uhr