Sein Weltbild war einfach: Es gab Mama, Papa und ihn, das Kind. Doch als Thomas sechs Jahre alt war, änderte sich das schlagartig: Seine Eltern eröffneten ihm, dass es einen weiteren Vater gab – den biologischen.
«Zuerst dachte ich, meine Eltern machen einen Witz», erinnert sich der heute 53-Jährige. Doch es war keiner. «Dann», so Thomas, «habe ich heftig geweint.»
Diese Reaktion erstaunt Angela Moré keineswegs. Sie ist Professorin für Sozialpsychologie an der Leibniz Universität Hannover und Gruppenanalytikerin.
«Mit der Enthüllung dieses Geheimnisses kommt nicht nur das Familienbild, sondern die ganze Identität ins Wanken», erklärt sie. Mehr noch: «Kinder haben ein Recht darauf, über ihre Herkunft Bescheid zu wissen.»
Bereits in jungen Jahren lege man sich sein Modell von Familie zurecht. Wenn es plötzlich einen biologischen und einen sozialen Vater gebe, frage sich das Kind: «Wer bin und wohin gehöre ich dann eigentlich?»
Geheimnisse prägen die Identität
Angela Moré erachtet es als reichlich spät, einem Kind erst mit sechs Jahren zu sagen, wie seine Familienverhältnisse tatsächlich seien. Gerade, weil die Identitätsfindung in jungen Jahren beginne.
Das Kind frage sich unweigerlich, warum man ihm diese Botschaft vorenthalten habe und was daran so schlimm sei: «Die Botschaft bekommt automatisch eine Wertung dadurch, dass sie nicht von Anfang an ein selbstverständlicher Bestandteil des Familienlebens ist.»
Dass Erwachsene Familiengeheimnisse erst spät oder gar nicht erzählen, kann vielerlei Gründe haben. Scham, Schuldgefühle und auch gesellschaftliche Konventionen sowie Moralvorstellungen können dazu führen, dem Kind nicht die Wahrheit oder nur eine unvollständige Version zu sagen. Geheimnisse sollen primär schützen – bei Schuldverstrickung sich selbst, bei Traumata andere.
Recht auf Geheimnis
Gerade in Demokratien haben Geheimnisse einen hohen Wert. Man denke nur an die Schweigepflicht von Ärzten oder ans Briefgeheimnis.
Auch in Familien seien Geheimnisse nicht automatisch schlecht, sagt Angela Moré: «Jeder Mensch hat ein Recht auf Privatheit und darf bestimmte Dinge für sich behalten. Kein Erwachsener muss jedem anderen oder einem Kind seine Gefühle mitteilen.»
«Im Wort Geheimnis steckt ‹heim› drin», erklärt Angela Moré. «Das zeigt in seiner Struktur, dass ein Geheimnis etwas ist, was in das Heim, in das Private, in das Zuhause gehört.» Familien hätten häufig Themen, die sie untereinander teilten, die aber nicht nach aussen dringen sollten.
Wenn die Psyche überfordert ist
Schwierig wird es jedoch, wenn die Last eines solchen Familiengeheimnisses erdrückend wird oder wenn die Kinder merken, dass an der Erzählung der Eltern etwas nicht stimmt. «Die problematischen Geheimnisse sind jene, die eigentlich gar nicht geheim gehalten werden können, weil sie die eigene Psyche völlig überfordern», erläutert die Expertin. «Auf dem Signalweg sind sie sozusagen ständig in der Kommunikation enthalten.»
Was das genau heisst, verdeutlicht Folgendes: Da wird Kindern beispielsweise gesagt, dass der Grossvater verunfallt sei. Doch bald einmal merken sie, dass die Erzählungen jedes Mal voneinander abweichen und die Eltern auf Fragen ausweichend antworten. Das irritiert. Jahre später finden sie heraus, dass er sich das Leben genommen hat.
Kinder merken, wenn etwas nicht stimmt
Das Ausgesprochene macht in der zwischenmenschlichen Kommunikation nur einen kleinen Teil aus: «20 bis 25 Prozent unserer Kommunikation oder sogar noch weniger sind kognitiv gesteuert», erläutert die Expertin. «Der grössere Teil der Kommunikation ist der nonverbale Teil. Für den sind gerade kleine Kinder, die noch nicht sprechen können, hochgradig empfänglich.»
Es sei ein vielschichtiger Prozess: In den ersten Lebensjahren ist ein Kind rund um die Uhr mit den Eltern zusammen und bekommt vieles von dem mit, was diese fühlen. Es nimmt wahr, wie sie etwas aussprechen, wie die Stimmlage ist. Aber auch, was sie nicht sagen.
«Die Kinder wabern im Meer der Gefühle der Eltern», bringt es Angela Moré auf den Punkt. «Darin gibt es die guten Gefühle, aber auch die nicht erträglichen, häufig traumatisch bedingten.»
Diese seien oft sogar intensiv da. «Wie ein Schwamm nehmen Kinder auch diese Signale auf.» Aus all diesen Botschaften formt das Kind sich innere Bilder.
Wie die unbewusste Weitergabe von traumatischen Erlebnissen innerhalb Familien funktioniert, ist eines der Forschungsgebiete der Professorin für Sozialpsychologie. Ein nicht ausgesprochenes Geheimnis in der Familie müsse zwar nicht, könne jedoch zu einem Trauma werden.
«Im Falle des Suizids des Grossvaters könnte das Trauma sehr wohl eingetreten sein bei dem Elternteil, dessen Vater sich das Leben genommen hat», sagt Angela Moré.
Trauma kann sich über Generationen vererben
Wenn darüber nicht gesprochen werde, vermittelten diese Eltern ihren Kindern bestimmte Assoziationen: «Nehmen wir an, die Mutter hat den erhängten Vater auf dem Dachboden gefunden. Dann ist jeder Gedanke an Dachboden mit Zittern, Schweissausbrüchen und Ängsten verbunden. Das Kind spürt: Da ist irgendetwas. Darüber kann nicht gesprochen werden. Da darf ich auch gar nicht fragen.»
Solche geheim gehaltenen traumatischen Erfahrungen in der Familie können für spätere Generationen dramatische Folgen haben: «Man kann wegen all dieser Signale Albträume haben, körperliche Symptome wie Enge in der Brust entwickeln oder das Trauma der Eltern nachleben, also reinszenieren.»
Einen solchen Fall hat der in Frankfurt lebende Psychoanalytiker Kurt Grünberg dokumentiert. Er sei von einem Überlebenden des Holocaust gebeten worden, zu ihm nach Hause zu kommen, erzählt Angela Moré. «Er sagte ihm, sein Sohn habe versucht, aus dem Fenster zu springen.»
Er selbst habe als Kind im Warschauer Getto mit angesehen, dass bei der Verhaftung jüdischer Menschen Kinder aus den Fenstern auf LKWs geworfen wurden. «Dieses Bild hat er, ohne je darüber zu sprechen, in vielfältigen körperlichen Signalen weitergegeben. Man kann sich vorstellen, was für eine Panik das in dem Mann ausgelöst hat, wenn sein Sohn ans Fenster trat.» Und der Sohn habe sich vermutlich gefragt, weswegen und gerätselt, was der Vater wohl habe.
Irgendwann, so die Analyse, habe der Sohn nicht anders gekonnt, als diese Signale in Szene zu setzen. «Diese Reinszenierung ist ein sehr verbreitetes Verhalten bei sogenannten transgenerationalen Traumata», erklärt Angela Moré.
Wie man sich mit dem Geheimnis auseinandersetzt
Die wirksamste Methode, um solche belastenden Geheimnisse in Familien zu durchbrechen, sei darüber zu reden. Doch manchmal sei dazu niemand mehr da oder bereit.
«Dann soll man versuchen, das Geheimnis dennoch möglichst gut aufzulösen. Zum Beispiel, indem man sich mit der Geschichte der Vorfahren auseinandersetzt und in der Familie recherchiert.» Auch wenn man nichts finde, sei es ratsam, über diese ungelösten Rätsel mit Partnern, Freunden und den eigenen Kindern zu sprechen, um es in die eigene Psyche und die Familiengeschichte zu integrieren.
Die Kraft der Enthüllung
Ob Kriegsverbrechen oder Enthüllungen über die Herkunft: Wichtig sei bei der Verarbeitung von Familiengeheimnissen, alle damit verbundenen Gefühle wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Eventuell sei auch Trauerarbeit nötig.
Gruppenanalytikerin Angela Moré rät: «Falls all dies nicht geht, soll man sich professionelle Hilfe bei einer für diese Themen offenen Psychotherapie holen.» Das sei die wirksamste Methode. Denn: Ein enthülltes und verarbeitetes Familiengeheimnis kann eine Ressource bilden, die einen im Leben stärkt.