«Wie soll ich das machen? Reicht es, wenn ich einen Punkt mache?» Diese Fragen hört die junge Lehrerin Sina Krüger, wenn ihre Schülerinnen und Schüler das weibliche Geschlecht zeichnen sollen.
Studien belegen das. 84 Prozent der 13-jährigen Mädchen konnten ihr Geschlecht nicht darstellen. Jede zweite wusste nicht, was die Klitoris ist, und 83 Prozent konnten ihre Funktion nicht benennen, sagt Sina Krüger. Sie hat sich mit dem Thema während ihrer Masterarbeit an der Humboldt-Universität in Berlin vertiefend befasst.
Der Grund dafür, dass bis heute wenig Menschen Bescheid wissen über das weibliche Geschlechtsorgan, liegt an den falschen Darstellungen der Klitoris in Schulbüchern.
Sogar Sachbücher versagen
Nicht nur in den Schulbüchern, auch in den Standardwerken für Biologie- und Medizinstudierende wird die Klitoris bis heute falsch dargestellt. Sowohl im berühmten «Gray’s Atlas for Anatomy» wie auch in der aktuellen Ausgabe des Anatomie-Atlasses «Prometheus» ist die Klitoris verschwindend klein abgebildet.
«Die weibliche Anatomie ist irgendwie vernachlässigt worden», bestätigt Daniel Haag-Wackernagel. Der emeritierte Professor für Biomedizin an der Universität Basel setzt sich schon seit vielen Jahren für eine vollständige Darstellung des weiblichen Geschlechtsorgans in Lehrbüchern ein. Dafür hat er ein anschauliches 3D-Modell entwickelt, das die Klitoris in ihrer wahren Grösse darstellt.
Wie gross ist die Klitoris wirklich?
Zur Klitoris gehören neben der äusserlich sichtbaren Klitoris-Eichel der Klitoris-Bogen, zwei Klitoris-Schenkel und die Vorhof-Bulben. Die gesamte Klitoris ist 9 bis 12 Zentimeter gross und dient allein der Lust.
Mit ihren Klitoris-Schenkeln und den Vorhof-Bulben liegt die Klitoris über der Harnröhre und umschliesst die gesamte Vagina.
Die Geschichte der Klitoris-Darstellungen
Der niederländische Arzt Regnier de Graaf legte schon 1672 anatomische Zeichnungen einer vollständigen Klitoris vor. Deshalb sei es schockierend, so Daniel Haag-Wackernagel, «dass die heutigen Atlanten und Schullehrbücher nicht einmal das Niveau des 17. Jahrhunderts erreichen, obwohl wir in diesem Bereich 300 Jahre Forschung hinter uns haben.»
Die Klitoris und damit die weibliche Lust blieben bis ins 18. Jahrhundert bedeutsam, weil die Meinung vorherrschte, dass der weibliche Orgasmus für die Fortpflanzung wesentlich sei. Sogar die Kirche empfahl den Männern, sie sollen sich um die Lust der Frau bemühen. Als aber die Forschung herausfand, dass Frauen auch ohne Orgasmus schwanger werden können, begann der Niedergang der Klitoris.
Puritanismus und Patriarchat unterdrücken die Klitoris
Der aufkommende Puritanismus und das wachsende Patriarchat nach dem Ersten Weltkrieg sorgten dafür, dass die Frau und somit ihre sexuelle Lust unterdrückt wurden, glaubt Daniel Haag-Wackernagel. Auch Sigmund Freud trug dazu bei: Er vertrat die These, dass der klitorale Orgasmus unreif sei. Nur den vaginalen Orgasmus erachtete Freud als reif.
Anhand von alten Lehrbüchern lässt sich beobachten, wie von da an die Klitoris von Ausgabe zu Ausgabe kleiner wurde. Zum Beispiel wurde in der ersten Ausgabe des «Grey’s Atlas of Anatomy» von 1858 die Klitoris noch vollständig dargestellt. In der Ausgabe 1913 fehlt sie ganz.
Erst in der zweiten Welle der Frauenbewegung der 1950er-Jahre holten sich die Frauen langsam ihr Recht auf sexuelle Lust zurück. Unterstütz wurden sie vom amerikanischen Sexualforscher Alfred Kinsey. Er widerlegte Freuds These und schrieb, Frauen erreichten den Orgasmus klitoral, nicht vaginal.
Die zaghafte Rückkehr der Klitoris
Als Wiederentdeckerin der Klitoris gilt die australische Ärztin Helen O’Connell. Sie sezierte Leichen und fotografierte die menschlichen Präparate. So kam sie zum Schluss, dass der Anteil an Schwellkörpern bei Frauen sogar grösser sei als bei Männern.
Trotzdem wird das weibliche Sexualorgan in den Atlanten für Anatomie und in den Schulbüchern bis heute unvollständig dargestellt. Neben der unkorrekten Darstellung der Klitoris fehlt meist auch die weibliche Prostata und damit eine Aufklärung über die weibliche Ejakulation.
Weibliche Ejakulation bleibt Tabu
Wer nicht weiss, dass auch Frauen eine Prostata haben, kann auch nichts über die weibliche Ejakulation erfahren. Noch immer ist die Ejakulation für viele Frauen mit Scham behaftet, weil sie nicht wissen, dass sie beim Orgasmus ein Sekret aus der Prostata ausscheiden.
«Mich hat es gewundert, dass ich erst mit Mitte zwanzig erfuhr, wie das weibliche Geschlecht aufgebaut ist», sagt Sina Krüger. Die 27-jährige Lehrerin hat sich deshalb nach ihrer Masterarbeit und mit Hilfe ihrer Professorin von der Humboldt-Universität an die grossen Schulbuchverlage Klett, Westermann und Cornelsen gewandt.
Verlage rüsten nach
Nach anfänglichem Zögern haben nun alle drei Verlage zugesagt, ihre neuen Auflagen zu korrigieren. Geholfen hat dabei auch Krügers Zusammenarbeit mit der deutschen Tageszeitung «taz» und dem damit verbundenen Medienrummel im deutschsprachigen Raum.
Auch der Anatomie-Atlas des Verlags «Prometheus» zieht nach. In Zusammenarbeit mit Daniel Haag-Wackernagel widmet Prometheus der Klitoris nun vier Seiten. Aber das Schulbuchwesen ist zäh. Es kann bis zu 10 Jahre dauern, bis die neuen Schulbücher tatsächlich in den Schulen ankommen.