Es sei nicht an anderen zu entscheiden, wohin die Träume der Afrikanerinnen und Afrikaner gehen sollen, meint der senegalesische Ökonom und Musiker Felwine Sarr. Im Gespräch erzählt er, wie der Kontinent nicht mehr Mitleidsobjekt sein soll, sondern Subjekt der eigenen Geschichte.
SRF: Musik ist eine grosse Leidenschaft von Ihnen. Sie ist oft ein Ausdruck des Zeitgeistes, manchmal auch ein Vorbote der Zukunft. Welche Zukunftsträume hören Sie in afrikanischer Musik der Gegenwart?
Felwine Sarr: Ich glaube, dass sich Afrika über Musik, Literatur, Kunst und über seine Städte mitteilt. Sie drücken aus, in welche Richtung sich der Kontinent entwickeln möchte.
Für das Verständnis der afrikanischen Gesellschaften und ihrer Dynamik sind akademische Texte natürlich wichtig. Es sind aber die Künste, welche Mangel und Makel hinter sich lassen und sich vom defizitären Leben ab- und dem Überfluss zuwenden. Sie erzählen von der Lebendigkeit und der Vitalität, welche die Gesellschaften anstreben.
Der Kontinent muss sich überlegen, welche Art von Gesellschaft erstrebenswert ist.
Das ist es, was ich in der afrikanischen Musik heraushöre. Ich erkenne darin eine grosse Vitalität, eine unbändige Lebenslust und einen Drang nach Selbstverwirklichung.
Gab es in Ihrer Biografie ein besonderes «Erweckungserlebnis», welches Sie politisiert hat?
Unter den vielen Ereignissen, die mich politisiert haben, sticht eines hervor: Ich sah als 14-Jähriger einen Film über Südafrika und den Begründer der Bürgerrechtsbewegung «Black Consciousness» Stephen Biko, der im Gefängnis gefoltert wurde und verstarb. Plötzlich wurde mir bewusst, was Apartheid bedeutet; zuvor hatte ich vage davon gehört, ohne zu verstehen, worum es dabei ging.
Dann wurde mein Vater Zeuge des Völkermords an den Tutsi in Ruanda, als er als Mitglied der UN-Streitkräfte dort stationiert war. Ich war damals 22 Jahre alt und Student in Frankreich. Dort beschäftigten sich die Menschen mit der bevorstehenden Fussballweltmeisterschaft und dem Tod des Rennfahrers Ayrton Senna, während in Afrika ein Völkermord geschah, der drei Monate lang 10'000 Tote pro Tag forderte, was niemand kümmerte. Mein Vater hat mir in Briefen die Situation vor Ort beschrieben. Das hat mich stark politisiert.
Sie kritisieren, dass Afrika dem Westen nacheifert. Afrika fehle eine Utopie, die nicht von aussen bestimmt ist. Was ist der Hauptgrund dafür?
Seit dem Kolonialismus ist Afrika ein Objekt, auf das Diskurse, Projekte, Fantasien und Teleologien projiziert werden. Es geht darum, dass die Afrikaner ihre eigene Zukunftsvision entwickeln; dass sie selbst entscheiden, welche Art von Gesellschaft sie aufbauen wollen.
Wir müssen bei all dem Guten, das andere wollen, unser Wörtchen mitzureden haben und ‹Nein, danke› sagen können.
Man hat ihnen gesagt, dass sie wirtschaftlich unterentwickelt sind. Der Kontinent darf diese ihm von aussen vermittelten Zweckorientierungen und zivilisatorischen Anordnungen nicht einfach übernehmen, sondern soll sich die Zeit nehmen, zu überlegen, welche Art von Gesellschaft und des Zusammenlebens erstrebenswert ist und welche Bedeutung man ihr selbst geben will.
Das ist die Bedeutung des utopischen Bewusstseins. Diese Arbeit kann nicht von anderen getan werden. Es ist nicht an ihnen, zu entscheiden, wohin unsere Träume gehen sollen und wie wir die Welt sehen und deuten.
Sie kritisieren auch immer wieder die Entwicklungshilfe aus dem Westen. Warum ist diese Hilfe nicht zielführend?
Man hat damit Gruppen von Menschen in eine Handlungsunfähigkeit gedrängt. Man kommt in Zeiten der Not mit Hilfsangeboten, ohne gleichzeitig die Selbstverantwortung der Empfänger zu stärken. Wenn bei jedem Problem eine Lösung geliefert wird, bleibt die Fähigkeit zum Aufbau eigener Kapazitäten auf der Strecke. Wenn die Hilfe weggeht, kehrt das Problem zurück, weil die Kapazitäten nicht aufgebaut worden sind.
Damit enden ganze Bevölkerungsgruppen in einem von Mangel geprägten Abhängigkeitsverhältnis. Afrika wird so in den Worten der Kamerunerin Nadine Machikou zum Objekt eines mitleidigen Imperialismus. Afrikas Verhältnis zur Welt ist geprägt von Mitleid. Bei all der Wohltätigkeit, die es erfährt, hat Afrika nichts zu sagen. So sollte es aber nicht sein.
Wir müssen bei all dem Guten, das andere wollen, unser Wörtchen mitzureden haben und «Nein, danke» sagen können und nicht Mitleidsobjekt, sondern in erster Linie das Subjekt der eigenen Geschichte sein wollen. Dieses psychologische Verhältnis, steuerndes Subjekt zu sein und dem Angebot der Solidarität etwas entgegenzusetzen haben, verändert die Dinge radikal.
Sie plädieren auch immer wieder dafür, dass Afrika mit eigenen Begriffen über seine Zukunft nachdenkt. Ein Begriff, der sich in Ihrem Buch «Afrotopia» findet, ist zum Beispiel «Tawfekh». Was bedeutet er?
Es bedeutet «Wohlbefinden», welches über das rein wirtschaftliche Wohlergehen, gemessen am BIP, oder das Wohlsein hinausgeht. Es bezeichnet eine Art Frieden der Seele und des Geistes, nachdem die wirtschaftlichen Bedürfnisse gestillt und die Fragen des Geistes und der Seele gelöst sind.
Tawfekh anzustreben ist mehr als Entwicklung. Alle wirtschaftlichen, kulturellen, spirituellen, poetischen und seelischen Bedürfnisse sind erfüllt, es herrscht ein vielschichtiger innerer Frieden. Ich finde, das ist etwas, was wir alle anstreben sollten: ein Tawfekh.
Die Fragen stellte Yves Bossart. (Das Interview ist die gekürzte Fassung eines längeren Gesprächs, das im Rahmen der «Sternstunde Philosophie» geführt wurde.)