Früher sahen wir anders aus, wir dachten anders und fühlten anders. So ziemlich alles an uns hat sich im Laufe der Zeit verändert. Da fragt sich: Wie kann ich ich bleiben, wenn ich mich doch ständig verändere? Gibt es etwas an mir, das gleich bleibt, wenn ich älter werde? Und muss etwas gleich bleiben, damit ich über die Jahre dieselbe Person bleiben kann?
Aus einem Schiff werden plötzlich zwei
Diese Fragen stellt das Gedankenexperiment «Schiff des Theseus»: An einem Schiff müssen über die Jahre immer wieder Teile ersetzt werden. Nachdem lediglich eine einzelne Planke ersetzt wurde, handelt es sich immer noch um dasselbe Schiff. Das würde wohl jede und jeder zugeben. Es hat sich zwar leicht verändert, ist aber immer noch das Schiff von Theseus.
Doch was passiert, wenn über längere Zeit immer mal wieder Teile erneuert werden müssen – bis das Schiff schliesslich komplett aus neuem Material besteht? Und stellen Sie sich vor, man baut aus den alten Teilen das Schiff von damals wieder zusammen: Gibt es dann Theseus’ Schiff zweimal?
Wir Menschen sind in gewisser Hinsicht ähnlich wie Theseus’ Schiff: Wir verändern uns permanent, sowohl äusserlich als auch innerlich. Dennoch sind wir dieselben Personen wie früher geblieben, auch wenn sich so ziemlich alles an uns verändert hat. Unsere Identität bleibt. Wie kann das sein?
Einschneidende Veränderungen
Einige Philosophen meinen, es brauche nichts Unveränderliches an uns, damit wir dieselben Personen bleiben. Alles könne sich wandeln. Nur dürfe dieser Wandel nicht abrupt geschehen.
Fälle von plötzlichen und einschneidenden Persönlichkeitsveränderungen, etwa nach einem Unfall oder einem Schlaganfall, beweisen das. Wir sind dann geneigt zu sagen: «Er ist nicht mehr derselbe wie früher» – nicht im übertragenen, sondern im eigentlichen Sinn. Meistens handelt es sich dabei um Menschen, deren Erinnerungsvermögen stark beschädigt wurde.
John Locke: Ohne Erinnerung kein Ich
Die Erinnerung spielt für unsere Identität eine entscheidende Rolle. Das wusste der englische Philosoph John Locke bereits im 17. Jahrhundert. Was uns nach Locke zu uns selbst macht, ist unser Selbstbewusstsein.
Egal, was wir momentan gerade tun, uns ist jeweils klar, dass wir es sind, die es tun. Wir können jederzeit über uns selbst nachdenken – auch über unser vergangenes Ich. Wir können uns erinnern. Dadurch, dass uns einzelne Momente im Gedächtnis bleiben und wir uns an sie erinnern können, bildet sich unser Ich-Bewusstsein. Unsere Erinnerungen machen uns erst zu den Personen, die wir sind.
Es braucht keine unveränderliche Seele
Stellen Sie sich vor, Sie tauschten Ihre Erinnerungen mit denen Ihrer Freundin. Ihr ganzes Gedächtnis wäre gelöscht und durch das Gedächtnis Ihrer Freundin ersetzt worden. Sie würden sich also nicht an Ihre eigene Kindheit, sondern an diejenige Ihrer Freundin erinnern. Ihr ganzer Erfahrungsschatz wäre damit ein anderer. Es scheint Ihnen ganz so, als hätten Sie und Ihre Freundin nicht nur die Erinnerungen, sondern auch die Identität getauscht.
John Locke bricht radikal mit der Annahme, es brauche etwas Gleichbleibendes in uns, damit wir über die Zeit hinweg dieselben bleiben können. Nach Locke kann sich alles an uns verändern, Hauptsache, wir erinnern uns noch an damals. Das Ich ist keine Substanz, sondern ein Bewusstseinsprozess. Auf die Annahme einer unveränderlichen Seele kann er verzichten.
Stimmen Sie Locke zu? Wie wichtig ist die Erinnerung für unsere Identität? Warum sind Sie, wer Sie waren?
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