Herr Precht, wenn Sie die heutige Welt betrachten: Welches sind für Sie die drängendsten Anliegen in Sachen Gerechtigkeit?
Die Verteilungsgerechtigkeit im Hinblick auf Chancen und Güter. Dass von dieser gegenwärtig nicht die Rede sein kann, verraten uns nicht zuletzt die nicht versiegenden Flüchtlingsströme.
Wie könnte uns die Idee eines «Schleier des Nichtwissens» von John Rawls dabei helfen, die heutige Welt und unsere Gesellschaft gerechter zu gestalten?
Sie könnte uns helfen, unsere Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Unter ethischen Gesichtspunkten darf es nicht darauf ankommen, ob man zufällig Schweizer ist oder Deutscher oder Nigerianer. Tatsächlich aber macht es in unserem Alltagsdenken einen gewaltigen Unterschied. Wir glauben, dass uns die Privilegien der reichen Länder quasi durch Geburt zustehen. Das ist moralisch falsch – und das Gedankenspiel von Rawls zeigt das ganz klar auf.
John Rawls behauptet mit seinem «Differenzprinzip», wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten könnten unter bestimmten Umständen gerecht sein – egal wie gross sie sind. Wichtig sei nur, dass die Ungleichheit auch denjenigen zugutekomme, die am schlechtesten gestellten sind. «Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen», schreibt Rawls, «den am wenigsten Begünstigten den grösstmöglichen Vorteil bringen.» Stimmen Sie da Rawls zu?
Ja, ich stimme Rawls zu. Vollständige Gleichheit ist nur unter dem Vorzeichen eines egalitären Terrors zu bewerkstelligen – und nicht mal unter diesem ist sie möglich.
Ist die Verteilung zwischen Arm und Reich in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz gerecht?
Selbstverständlich nicht! Und ich möchte den sehen, der das Gegenteil behauptet. Wenn der eine Millionen erbt und der andere in einen Haushalt ohne Inspiration, Geld und Perspektive hineinwächst – wie soll man das als gerecht empfinden? Und es ist ja auch nicht so, dass die Ärmsten der Schweizer oder deutschen Gesellschaft davon profitieren, dass die Reichsten reicher werden.
Wie kann sich jede und jeder von uns für mehr Gerechtigkeit einsetzen?
Immer und überall.
Das Interview wurde schriftlich geführt.