Stellen Sie sich vor, Sie sind Sprachforscherin und reisen in den Urwald, um die Sprache eines noch unbekannten Volksstamms zu erforschen. Nach Tagen einsamer Wanderung sehen Sie in der Ferne die ersten Bewohner.
Sie verstecken sich, installieren das Richtmikrofon und legen Ihr Notizbuch bereit. Die ersten Laute, die Sie vernehmen, klingen fremd: «kabauk», «teenog saag», «lendron menai». Sie verstehen Bahnhof.
Was bedeutet «Gavagai»?
Dann aber ereignet sich eine interessante Situation: Ein Hase hoppelt vorbei, woraufhin ein Mann aufsteht, auf den Hasen zeigt und ruft: «Gavagai!».
Sofort zücken Sie Ihr Notizbuch und schreiben: «Gavagai = Hase». Aber halt: Warum sind Sie da so sicher? Könnte der Ausdruck «Gavagai» nicht auch «Unser Abendessen!», «Auf zur Jagd!» oder «Heute gibt’s ein Gewitter» bedeuten?
Quine und die Unbestimmtheit der Übersetzung
Dieses sprachphilosophische Gedankenexperiment stammt von dem amerikanischen Philosophen Willard Van Orman Quine. Er möchte damit zeigen, dass jede Übersetzung auf wackligen Füssen steht und es immer mehrere Möglichkeiten gibt, eine fremde Sprache zu übersetzen.
«Gavagai = Hase» ist zunächst nur eine Hypothese, die sich angesichts des weiteren Sprachgebrauchs des Volksstammes bewähren muss. Wenn sich zeigen sollte, dass die Sprecher auch bei vorüberkriechenden Schlangen «Gavagai» rufen, dann wird die Hypothese «Gavagai = Hase» unglaubwürdig.
Vieldeutige Wörter, vieldeutige Gesten
Auch ein direktes Kommunizieren mit den Bewohnern des indigenen Volksstamms würde nicht helfen. Angenommen, Sie könnten aus Ihrem Versteck auftauchen, mit einem Hasen in den Händen auf die Indigenen zugehen und fragen «Gavagai?».
Ignorieren wir für einmal die Tatsache, dass diese ziemlich überrascht wären, einen wildfremden Menschen zu sehen. Angenommen, sie würden ruhig bleiben und mit den Armen wedeln. Was bedeutet dieses Wedeln? Ja oder nein? Wieder ist mehreres möglich. Auch Gesten bedürfen der Interpretation.
Das Prinzip des Wohlwollens
Quine hat für sein Übersetzungsproblem auch eine Lösung. Er meint, wir sollen die fremden Äusserungen im Zweifelsfall möglichst wohlwollend interpretieren und die Eingeborenen nicht doof dastehen lassen.
Wir sollten «Gavagai!» also nicht mit «Da ist ein Affe!» übersetzen, denn diese Aussage wäre falsch und der Sprecher ein ziemlich schlechter Beobachter.
Quine beruft sich bei seiner Argumentation auf das «Prinzip des Wohlwollens», das in etwa besagt: Gehe davon aus, dass Dein Gegenüber rational ist und ungefähr so tickt wie Du.
Der Urwald beginnt zuhause
Etwas anderes bleibt uns gar nicht übrig, denn es sind immer verschiedene Übersetzungen möglich und es ist letztlich unbestimmt, worauf sich andere Sprecher mit ihren Wörtern beziehen.
Dieses Problem ist übrigens kein reines Urwaldproblem, sondern beginnt bereits zuhause, in den eigenen vier Wänden. Missverständnisse gehören zu unserem Alltag, auch wenn wir dieselbe Sprache sprechen.