SRF: Können Sie sich, wie unser Gedankenexperiment «Liebespille» darlegt, Folgendes vorstellen: Eine Liebespille als Hilfsmittel einzusetzen, um jemanden für sich zu gewinnen?
Nora Kreft: Hier stellen sich ja zwei Fragen. Erstens: Ist es moralisch erlaubt, jemandem diese Pille zu verabreichen? Und zweitens: Ist die von der Pille verursachte Liebe genauso gut wie das «Original» – macht sie auf die erhoffte Weise glücklich?
Für die erste Frage macht Einwilligung einen wichtigen Unterschied: Es wäre wohl problematisch, jemandem die Pille ohne dessen Einwilligung einzuflössen – eine Missachtung seiner Autonomie.
Die zweite Frage finde ich komplizierter. Besonders, wenn man das Szenario noch um eine Vergessenspille erweitert, die die Erinnerung an die Liebespille auslöscht.
Ohne Vergessen würde uns womöglich jedes «ich liebe dich» nach der Liebespille schal erscheinen, aber mit Vergessen steht dem Glück doch nichts im Weg? Oder wenigstens dem Glücksgefühl?
Und warum zögern Sie?
Glücksgefühle sind nicht identisch mit Glück, und irgendetwas fehlt der Pillenliebe zum echten Glück. Vielleicht die Tatsache, dass die Pille den Prozess des «Sehen-Lernens» umgeht oder überspringt, der «echte» Liebe eigentlich begründet.
Freiheit und Unverletzlichkeit scheinen verschiedene Dinge zu sein.
Sonst verliebt man sich, weil man den Anderen auf einmal auf eine bestimmte, neue Weise zu «sehen» lernt. Wenn ich die Pille nehme, scheine ich dagegen «blind» zu lieben, also ohne auf tiefe Weise zu begreifen, was den Anderen eigentlich so besonders und liebenswert macht.
Macht Liebe unfrei?
Wenn uns ein Freund sagen würde: «Ich habe mich entschieden, mich in Peter zu verlieben», würden wir wahrscheinlich erstaunt erwidern: «Liebe ist doch keine Sache der Entscheidung.»
Liebe passiert einem, man entscheidet sich nicht dazu – genauso wie man sich auch nicht entscheidet, einen bestimmten Sachverhalt zu glauben oder ein bestimmtes Gefühl zu haben.
Nun könnte man denken: Wenn man sich nicht entscheiden kann, zu lieben, dann macht Liebe unfrei. Denn dann ist sie ja nicht unter unserer Kontrolle.
Aber vielleicht ist diese Art von direkter Kontrolle gar nicht so wichtig für Freiheit. Erstens könnte man darauf verweisen, dass man ja unter Umständen immer noch indirekte Kontrolle über geistige Zustände wie Liebe, Überzeugungen und Gefühle hat: Wir können uns ja beispielsweise entscheiden, eine Liebespille zu nehmen oder auf andere Weise die Bedingungen zu verändern, unter denen diese Zustände entstehen. Und vielleicht reicht das aus.
Zweitens ist Kontrolle möglicherweise sowieso nicht ausschlaggebend für «Freiheit im Geist». Geistige Freiheit scheint viel mehr damit zu tun zu haben, die Welt richtig zu sehen. Dann gibt es also hoffentlich Platz für «freie Liebe».
Sind Liebende nicht immer auch abhängig von ihren Geliebten?
In bestimmter Weise schon, denn ihr Wohl und Weh hängt zentral vom Wohl und Weh des Geliebten ab. Das macht Liebende verletzlich. Ist diese Art von Verletzlichkeit mit Freiheit unvereinbar? Ich glaube nicht. Freiheit und Unverletzlichkeit scheinen verschiedene Dinge zu sein.
Wenn Liebe eine Form von Wertschätzung ist, dann gibt es scheinbar kein vergleichendes Werten.
Und eigentlich denke ich, dass Liebe nicht nur mit Freiheit vereinbar ist, sondern bestimmte, unfrei machende Bande sogar sprengen kann: Liebe hilft typischerweise dabei, soziale Konventionen zu hinterfragen und aufzuweichen. Romeo und Julia sind ein klassisches Beispiel dafür: Ihre Liebe ist so ein starker Motor, dass die Regeln ihrer Eltern an Autorität verlieren.
Warum würden wir unseren Partner nicht gegen jemanden eintauschen, der liebenswerter ist oder im Vergleich eine «bessere Punktzahl» erzielt?
Das ist eine schwierige Frage. Erstmal ist es überraschend, dass das so ist: Liebende würden ihre Geliebten nicht auf der Basis von vergleichenden Werturteilen gegen andere Personen eintauschen.
Bei Elternliebe ist das besonders offensichtlich, aber es gilt auch für romantische Liebe und tiefe Freundschaft. Wenn Liebe eine Form von Wertschätzung ist, dann scheinbar kein vergleichendes Werten.
Das spricht gegen Liebestheorien, die Liebe einfach in den wertvollen Eigenschaften des Geliebten begründet sehen – denn wertvolle Eigenschaften wie Schönheit, Güte, Witz sind ja prinzipiell Vergleichen zugänglich.
Liebe geht einher mit der Anerkennung der fundamentalen Gleichheit zweier Personen.
Eben habe ich davon gesprochen, dass Liebende ihre Geliebten in bestimmter Weise «sehen» lernen: Das, was sie da «sehen» und was zum Vorschein kommt, ist dann aber wohl etwas Anderes als diese Art von Eigenschaft.
Sollte ich die andere Person so lieben, wie sie ist, oder darf ich versuchen, sie zu verbessern?
Weder noch. Ich muss nicht einfach hinnehmen, wie mein Geliebter ist, was er sagt und tut – ich kann ihn kritisieren, ich kann ihn zur Rede stellen, ich kann mich mit ihm streiten. Ich sollte das sogar tun. Aber das ist etwas Anderes, als ihn zu verbessern.
Bei dem Wort ‹verbessern› denke ich an eine erzieherische, manipulative Haltung. Und das deckt sich nicht mit Liebe – auch nicht mit Elternliebe. Liebende überhöhen sich nicht auf diese Weise, und sie machen sich auch nicht kleiner als ihre Geliebten. Liebe geht einher mit der Anerkennung der fundamentalen Gleichheit zweier Personen.
Das Gespräch führte Yves Bossart.
Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 12.2.2017, 11 Uhr