Seit dem 19. März ist klar: Die UBS übernimmt für drei Milliarden Franken die Credit Suisse. Bund und Nationalbank haben ein Rettungspaket von 259 Milliarden Franken geschnürt. Thomas Wallimann, Wirtschaftsethiker und Theologe, beantwortet ethische Fragen zum Fall CS.
SRF: Warum ist für die Credit Suisse so schnell eine Lösung mit so beträchtlichem Kapitaleinsatz bereit, während etwa das Parlament den Rentnern einen Teuerungsausgleich von sieben Franken pro Monat verweigert?
Thomas Wallimann: Ich glaube, das hat damit zu tun, dass das System des Finanzsektors für uns Menschen so komplex und undurchsichtig geworden ist, dass wir ihm ausgeliefert sind. Wir haben Strukturen, gegen die wir nichts machen können.
Je kleiner aber die Systeme sind, desto eher können wir diskutieren. Deswegen geht es bei den Renten, die jeder irgendwo begreifen kann, am Schluss um einen Fünfliber, während wir das Bankensystem nicht mehr kontrollieren können.
Dieses System von Staatsgarantien vermittelt das Gefühl, dass die Konsequenzen keine Rolle spielen.
Dieses System hat eine so grosse Macht und ist so komplex geworden, dass wir ihm ausgeliefert sind. Sein Nachteil ist, dass es uns zu Menschen macht, die letztendlich für die Konsequenzen des Handelns nicht mehr geradestehen müssen. Nicht, dass man diesen Menschen die Schuld geben müsste, aber man kommt in eine Kultur hinein, in der die Folgen keine Rolle spielen.
Wir machen Dinge, die wir sonst nie machen würden. Das ist aus ethischer Sicht hochproblematisch, weil wir schon als Kinder lernen, dass wir für das, was wir machen, geradestehen müssen. Dieses System lehrt uns das Gegenteil. Diese Hunderte von Milliarden täuschen vor, dass nichts passieren würde, dass man ein bisschen spielen kann und man kriegt das Geld wieder.
CS-Verwaltungsratspräsident Axel Lehmann sagte, es gehe um «Risiken, die sich materialisiert haben». Das ist auch sprachlich interessant: Die Risiken werden als Naturgewalt dargestellt, gegen die man nichts ausrichten kann.
Letztendlich weiss der Mensch: Ich möchte leben, wie es meinen Werten entspricht, die ich zu Hause in der Familie lerne. Dort gilt Teilen und Rücksichtnahme. Nun komme ich in ein System, um mir mein Leben zu verdienen. Und dieses lehrt mich permanent etwas, das ich vielleicht gar nicht als das meinige sehe.
Diese Art des Wirtschaftens trennt den Menschen von sich selbst.
Ich werde so sozialisiert. Um zu verdecken, dass wir in diesem System gar nicht unsere Werte leben können, wird das mögliche Unbehagen mit Geld zugedeckt. Man fühlt sich im System geschützt. Dieses System von Staatsgarantien vermittelt das Gefühl, dass die Konsequenzen keine Rolle spielen. Um das sehr pointiert zu sagen.
Sie sprechen das an, was man als «moral mazard» bezeichnet, als moralisches Risiko im Stil von «egal, ob ich Milliarden in den Sand setze, irgendwer kommt schon und rettet mich». Sprich: der Bund und die Nationalbank.
Genau, es geht in diese Richtung. Wir kennen das im Kleinen wie im Grossen. Wir sehen jetzt, dass dieses System lebensfeindlich ist. Dass diese Art des Wirtschaftens Menschen von sich selbst trennt: Ich mache meine Arbeit und wer ich eigentlich bin, ist etwas anderes.
Dieses System macht unser Zusammenleben kaputt. Komplexe Systeme sind ja nicht einfach aufzulösen. Deswegen geben wir einfach noch ein bisschen mehr vom Gleichen: Milliarden.
Das heisst, wir sind gefangen in einem System, aus dem wir nicht mehr rauskommen?
Man ist weitgehend gefangen. Und jetzt fragt man sich: Wo setzen wir an, um dies zu ändern? Wir können nicht einfach sagen: «Gut, jetzt lassen wir es halt fahren.» Es beginnt bei jedem Einzelnen: sich bewusst zu machen, welche Werte habe ich in der Familie gelernt, und wie möchte ich sie im Leben umsetzen? Wo gelingt es, dies in Resonanz zu bringen? Das hat auch zur Folge, dass wir dort, wo wir es können, aufstehen und sagen: «Ich möchte einen anderen Akzent setzen.»
Die CS schrieb grosse Verluste, hat aber in den letzten zehn Jahren 32 Milliarden Franken an Boni ausbezahlt. Noch am Tag der Übernahme durch die UBS gab die CS bekannt, sie wolle Boni auszahlen. Ist das Schamlosigkeit?
Dass wir diese Empörungswelle wahrnehmen, drückt deutlich aus, dass die Menschen merken, hier ist etwas grundlegend falsch. Und zwar nicht nur systemisch falsch – das hat auch mit verletzten Wertvorstellungen zu tun. Bauchgefühle weisen meist auf Wertvorstellungen hin.
Wir haben also Hinweise darauf, dass aus ethischer Sicht dieses Finanzsystem korrupt oder «broken» ist, wie man Neudeutsch sagt. Dass die Boni weiterbezahlt werden, zeigt, dass das System weiter funktionieren will, auch wenn es angeschlagen ist.
Die Boni sind ein Zeichen dieser Kultur, die darauf hinweist: «Du musst dich einfach so verhalten, wie die Kultur bei uns ist, dann wirst du dafür belohnt.» Daran gewöhnt man sich. Das wird ein Teil des Alltags, der Art und Weise des Arbeitens. Dem Einzelnen kann man dieses Denken im Prinzip nicht verübeln, weil er so sozialisiert wurde und gefühlt ein Anrecht darauf hat.
Sind Topbanker bloss gierig?
Das wäre eine Verkürzung der Problematik. Weil das System so komplex ist, wäre es für uns dankbar, die Schuld bei einzelnen oder einer bestimmten Gruppe von Bankern zu suchen. Ich denke, der Grund für dieses Verhalten liegt im System selber. Letztendlich hören wir jetzt eine Kapitalismuskritik, die daraus erwächst, dass das System glaubt, mehr sei stets besser.
Wir sehen jetzt, dass mehr Wachstum nicht unbedingt zum Wohl der Menschen ist.
Dieser Gedanke liegt dem Ganzen zugrunde: Je mehr Gewinn ich mache, desto besser bin ich auch moralisch und desto besser sind wir als Organisation. Der Glaube, dass das zum Wohle aller ist, dieses grundlegende Denkmuster müssen wir hinterfragen.
Wir sehen jetzt, dass mehr Wachstum nicht unbedingt zum Wohl der Menschen ist. Wir spüren langsam, dass das gefährlich wird. Das Reden über diese «Monsterbank» – auch hier: die Sprache. Das ist nicht eine «Megabank» oder «eine sehr grosse Bank», sie ist ein «Monster».
Das Gespräch führte Raphael Zehnder.