Stellen Sie sich zwei Urzeitmenschen vor. Beide hören ein Rascheln im Busch. Der eine denkt, da lauert ein Löwe und rennt weg. Der andere ist voller Neugier, geht hin und entdeckt: Es war nur der Wind. Auch beim nächsten Rascheln schaut er nach. Leider. Diesmal wartet nämlich ein Löwe.
Überlebt hat nur der der Ängstliche und Schnelle – und irgendwie auch der Dumme. Mit dieser Geschichte beginnt das neue Buch des einflussreichen Schweizer Gerichtspsychiaters Frank Urbaniok: «Darwin schlägt Kant. Über die Schwächen der Vernunft und ihre fatalen Folgen».
Der «Gutachter des Bösen»
Urbaniok kennt die Schwächen und Schattenseiten des Menschen: Der «Gutachter des Bösen» (nach einer DOK-Sendung über ihn) ist einer der führenden Experten für Gewalt- und Sexualverbrecher. Als Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich hat er den Schweizer Strafvollzug massgeblich geprägt.
Mit «FOTRES» hat er eine Methode entwickelt, um die Rückfallwahrscheinlichkeit von Straftätern zu bestimmen. Kritiker nannten ihn «den Wegsperrer der Nation».
Nach einer schweren Krebserkrankung im Jahr 2016 zog er sich aus öffentlichen Positionen zurück, mischt sich aber noch immer gerne in gesellschaftliche Debatten ein. Das tut er auch mit seinem neuen Buch.
Vernunft als Überlebenshilfe
Für Urbaniok ist klar: Die Vernunft ist ein Produkt der Evolution, in erster Linie eine Überlebenshilfe, kein Instrument der Wahrheitsfindung. Überleben statt Überlegen, lautet die Devise. Wir biegen uns die Welt zurecht, vereinfachen komplizierte Sachverhalte, blenden unbequeme Wahrheiten aus und denken in Schwarz und Weiss.
Das habe nicht nur evolutionäre Gründe, sondern auch gefährliche gesellschaftliche Auswirkungen. Diese legt Urbaniok im zweiten Teil seines knapp 500-seitigen Buches dar.
Da geht es um Extremismus, Populismus, Mafiamethoden in der Wirtschaft und Auswüchse der Bürokratie. All das seien Folgen der Evolution, «Konstruktionsschwächen» unserer Vernunft, schreibt Urbaniok.
«Weiche Zensur» befeuert Rechtspopulismus
Das gelte auch für die «weiche Zensur» der Medien in Sachen «Ausländerkriminalität». Hier wagt sich Urbaniok – wieder einmal – auf heikles Terrain: Er belegt mit Zahlen, dass Ausländer proportional mehr Delikte begehen, dies aber von vielen Medien verschwiegen wird.
Die unangenehme Tatsache passe nicht ins Weltbild der Journalisten. Zudem wolle man keinen Rassismus befeuern. Die Strategie bewirke aber das Gegenteil: Die «weiche Zensur» befeure den Rechtspopulismus. Mit diesen streitbaren Thesen wird Urbaniok für Diskussionen sorgen. Er ist vorbereitet.
Anthropologie mit politischer Sprengkraft
«Darwin schlägt Kant» ist eine Anthropologie mit politischer Sprengkraft. Das Buch liest sich über weite Strecken hervorragend. Komplexe Sachverhalte und Theorien werden verständlich und prägnant erklärt. Kant und Nietzsche, Kahnemann und Harari, Machiavelli und Mao, AfD und SVP: Alles kommt vor.
Und noch viel mehr. Bisweilen gewinnt man den Eindruck, der Autor möchte zeigen, was er alles kennt. Dadurch geht der rote Faden da und dort verloren. Lehrreich und brisant bleibt das Buch aber auch dann.