In der islamischen Tradition hatten Jahrhunderte lang Männer das Sagen. Sie waren es, die die heiligen Texte aufschrieben und das religiöse Leben bestimmten. Im 21. Jahrhundert vermissen immer mehr Gläubige die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau.
Das evangelische Missionswerk «Mission 21» in Basel hat die Geschlechterrollen im Islam mit einer Fachtagung thematisiert. Der Berliner Psychologe Ahmad Mansour und die beiden Islamwissenschaftlerinnen Amira Hafner-Al Jabaji und Esma Isis-Arnautovic haben über Gleichberechtigung im Islam referiert.
Noch keine Gleichberechtigung
Für den Psychologen Mansour ist klar: «Der strafende Vater hat den strafenden Gott erfunden.» In der arabischen Gesellschaft des 7. Jahrhunderts war das Patriarchat stark verwurzelt. Die Männer dominierten die Familien, die Politik und die Religion. Deshalb hätten Männer auch das Gottesbild nach diesem patriarchalen Vorbild erschaffen.
1400 Jahre später sei dieses Bild des Islam noch immer weit verbreitet, bedauert Mansour. Und das nicht nur in Saudi-Arabien. Auch in der Schweiz und in Deutschland hätten 99 Prozent der Muslime ein Islamverständnis, das nicht auf Gleichberechtigung aufgebaut ist, ist der Psychologe überzeugt.
Mit Gott streiten
Ahmad Mansour arbeitet mit muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich radikalisiert haben. Oft besucht er sie im Gefängnis. Er kennt ihre Meinungen: «Sie glauben, Männer hätten das göttliche Recht, über den Frauen zu stehen.» So wie das schon der dominante Vater in der eigenen Familie vorgelebt habe.
Der Berliner Psychologe und Buchautor musste selbst umdenken lernen. Er radikalisierte sich als Jugendlicher – dank seines Studiums fand er aus der radikal-islamistischen Ecke wieder heraus.
Heute interpretiert Mansour seine Religion neu. «Ich will mit Gott und den heiligen Texten streiten», betont Ahmad Mansour. So finde er heraus, wie er seine zentralen Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Gleichberechtigung mit seiner Religion vereinbaren könne.
Gleichberechtigte Schöpfungsgeschichte
Auch Islamwissenschaftlerin Amira Hafner-Al Jabaji setzt sich mit dem Koran auseinander. Sie sucht nach Versen, die auf Gleichberechtigung basieren. Ein Beispiel dafür findet sie in der Schöpfungsgeschichte.
«Gott hat zuerst das geschlechtslose Wesen Mensch geschaffen. Daraus formte Gott gleichzeitig und ebenbürtig Mann und Frau», erzählt Hafner-Al Jabaji. Die Frau sei im islamischen Verständnis nicht aus dem Mann heraus erschaffen worden.
Herausforderung für feministische Musliminnen
Im Koran stehen aber auch frauenfeindliche Verse. In Sure 4:34 steht, dass Männer Frauen schlagen dürfen, wenn diese nicht gehorchen. Dieser Vers sei wahrscheinlich die grösste Herausforderung für feministische Musliminnen, sagt Amira Hafner-Al Jabaji.
Gläubige Feministinnen interpretieren die Koranverse neu. Die Islamwissenschaftlerin Esma Isis-Arnautovic betont: «Schon der 4. Kalif hat gesagt: ‹Der Koran spricht nicht. Es sind die Menschen, die ihn zum Sprechen bringen.›»
Islam regt zum Denken an
Isis-Arnautovic ist Doktorandin am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft an der Uni Freiburg. Natürlich gebe es frauenfeindliche Muslime, sagt sie. Sie selbst verstehe ihre Religion aber anders: «Der Islam fordert mich zum Denken auf.»
Sie renne keiner Religion blindlings hinterher, sagt Isis-Arnautovic: «Die Argumente müssen mich überzeugen.» Auslegungen müssten rational nachvollziehbar und schlüssig sein. Sie frage sich: «Kann es die Absicht Gottes sein, die Frau als minderwertiges Wesen zu erschaffen?» Und: «Wer hat etwas davon?»
Immer mehr religiöse Jugendliche wünschten sich neue Antworten auf ihre Fragen, erzählt Esma Isis-Arnautovic. Viele suchten sie unterdessen selbst in den Quellen: « Dabei loten sie selbst aus, was für sie richtig ist und welchen Interpretationen sie folgen wollen.»