Joe Leemann ist stolz auf das «Town Village». Die Siedlung im Winterthurer Quartier Neuhegi ist das neuste Projekt des Quellenhofs, einer eng mit der Winterthurer Freikirche GvC verbundenen Stiftung.
Ein Idealdorf für Alters- und Pflegefragen der Zukunft, so beschreibt es Joe Leemann, Geschäftsleiter der Stiftung. Und: «Ein Ort, wo christliche Werte gelebt werden.»
Seit August leben im «Town Village» rund 150 Seniorinnen und Senioren, Familien, Alleinerziehende und Geflüchtete in 61 Mietwohnungen. Zur Siedlung gehört ein Café, ein Mahlzeitendienst, eine eigene Spitex – betrieben von der Stiftung –, ein Betreuungsangebot für pflegebedürftige Betagte, ein Jugendtreff der Kirche.
Eingemietet sind auch ein Coiffeur und eine Physiotherapiepraxis. Am West- und am Ostende befinden sich die Werkstätten für Menschen mit psychischen Schwierigkeiten. Und mittendrin das Kongresszentrum Parkarena, wo sich am Wochenende bis zu 1300 Mitglieder der Freikirche zu Gottesdiensten treffen.
Einsatz für die Schwachen
An der vielbefahrenen Strasse, die an der Siedlung vorbeiführt, steht ein Transporter. «Love in Action» steht darauf. «Das ist wohl eine Aktion der Jugendkirche», sagt Joe Leemann.
Kirchgemeinde und Siedlung sind organisatorisch getrennt und doch eng verbunden, etwa die Hälfte der Mieterinnen und Mieter gehen sonntags auch in die Kirche. Die Büros der Stiftung und der Freikirche GvC liegen Tür an Tür im «Town Village».
Joe Leemann, 43 Jahre alt, zugänglich, Typ «freundlicher Nachbar», geht vorbei am Empfang mit dem Charme einer modernen Jugendherberge (inklusive Töggelikasten) und weiter zu den Werkstätten.
Es riecht nach Holz, an der Wand hängen Foto-Porträts. Sie zeigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung und Menschen, die in den sozialen Werkstätten arbeiten.
Wer zu welcher Gruppe gehört, ist nicht ersichtlich. «Das symbolisiert, wie wir hier zusammenleben wollen: auf Augenhöhe. Wir machen keinen Unterschied zwischen den Menschen, egal, was sie schon durchgemacht haben», erklärt Leemann.
Eine soziale Stiftung mit freikirchlichem Ethos
Die Quellenhof-Stiftung kümmert sich seit 30 Jahren um Menschen am Rande der Gesellschaft. Begonnen hat alles im Drogenelend der 1990er-Jahre, mit Beratung und Reintegration für Drogensüchtige.
Unterdessen betreibt die Stiftung Werkstätten mit IV-Arbeitsplätzen, bietet Jobcoaching, betreutes Wohnen für psychisch angeschlagene Menschen, Lehrstellen für Jugendliche, ein Teenagerwohnheim und seit einem Jahr die Siedlung «Town Village» mit Fokus auf Seniorinnen und Senioren.
Die Stiftung ist ein wichtiger Pfeiler der Sozialarbeit in Winterthur, sie erhält städtische Aufträge. Stadtpräsident Michael Künzle von der Mitte, ehemals CVP, ist des Lobes voll: «Die Quellenhof-Stiftung gehört zu Winterthur wie die Eulach und die Töss», wird er in der Zeitung «Landbote» zitiert.
Wird da etwa missioniert?
Doch gerade diese Nähe zur Stadt und der freikirchliche Hintergrund der Stiftung sorgen immer wieder für Kritik und latentes Misstrauen. Der Verdacht: Die Stiftung nutze ihre Angebote zum Missionieren – bei besonders vulnerablen Menschen.
Joe Leemann widerspricht: «Als Leiter der Quellenhof-Stiftung lege ich meine Hand ins Feuer: Niemand wird zu irgendwas gezwungen.»
Zwar spiele der christliche Glaube im Leitbild der Stiftung eine zentrale Rolle, «aber wir missionieren nicht», versichert Joe Leemann. Zumal würde die Stiftung wegen der staatlichen Aufträge auch streng kontrolliert. Zudem betont Joe Leemann: Stiftung und Kirche seien organisatorisch klar getrennt, die Mehrheit der Mitarbeitenden habe keinen freikirchlichen Hintergrund.
Wo Freikirche draufsteht, ist meist Freikirche drin
«Die Freikirchen haben begriffen, wie wichtig die organisatorische Trennung von Kirche und sozialem Engagement ist», bestätigt auch Georg Otto Schmid. Er ist Leiter von Relinfo, einer Beratungsstelle der reformierten Kirchen rund um Sekten, Kirchen und Religionen.
Schmid beobachtet die Freikirchenszene der Schweiz seit Langem. In der Praxis sei diese Trennung aber nicht immer einfach.
«Die Mission ist ein wichtiges Element des freikirchlichen Glaubens», erklärt Georg Otto Schmid. Im Verständnis der Freikirchen werde nur erlöst, wer sich zu Jesus Christus bekenne.
Ihren Glauben weiterzugeben, sei für freikirchliche Menschen deshalb ebenso wichtig wie soziale und wirtschaftliche Unterstützung, so Schmid. Früher sei beides parallel gelaufen, heute werde strikt getrennt.
Allerdings leuchte das heutige Missionierungstabu beim sozialen Engagement nicht allen Angehörigen von Freikirchen gleichermassen ein, sagte Georg Otto Schmid: «Ich höre in der Praxis immer wieder von Fällen, in denen eben doch missioniert wird.»
Für Georg Otto Schmid ist deshalb klar: Wenn es um vulnerable Personen geht, ist besondere Vorsicht geboten. Die Regeln sollten klar und Kontrolle selbstverständlich sein.
Schmid empfiehlt freikirchliche pädagogische und therapeutische Angebote nur für Menschen, die selbst einen freikirchennahen Glauben vertreten oder damit gut umgehen können.
Teil des gottgefälligen Lebens
Doch woher kommt eigentlich das Bedürfnis der Freikirchlerinnen und Freikirchler, sich sozial zu engagieren? Die Diakonie, der Dienst am Menschen, sei ein zentraler Teil des christlichen Glaubens, erklärt Georg Otto Schmid: «Für andere Menschen da zu sein, wird in der Welt der Freikirchen höher gewertet als eine Menge Geld zu verdienen.»
Ansehen erhalte nicht, wer an der HSG Wirtschaft studiert, sondern, wer sich zum Pflegefachmann oder zur Lehrerin ausbilden lässt. «Deshalb sind Menschen aus dem Freikirchenmilieu auch übervertreten im Sozial- und Gesundheitswesen, in der Polizei und in der Bildung», sagt Freikirchenexperte Georg Otto Schmid.
Kein Wunder also gibt es in Winterthur eine christliche Privatschule, die SalZH. Gründer David Schneider sitzt im Vorstand der Evangelischen Allianz Winterthur, einem Dachverband von Freikirchen und freikirchlichen Sozialwerken, und sass für die FDP im Winterthurer Stadtparlament. Er betont: Die SalZH sei keine Freikirchenschule. «Wir haben Lehrer und Schülerinnen aus allen Konfessionen.»
Zu Besuch bei der christlichen Privatschule
«Wir reden über den Glauben in der Quellenstunde, einer Art Gottesdient», erzählt Schülerin Liv Kägi, die die 2. Sekundarklasse besucht. «Und manchmal beten die Lehrpersonen zu Beginn der Stunde und segnen uns.»
Liv Kägi schätzt das christlich geprägte Umfeld in der SalZH: «Es gibt hier viele Schülerinnen und Schüler, die glauben. Anders als an öffentlichen Schulen wird man dafür hier nicht abgestempelt.» Zudem seien die Klassen kleiner. «Die Lehrerinnen und Lehrer haben viel Zeit für uns.»
600 bis 1400 Franken beträgt das Schulgeld pro Monat. Die SalZH bietet Vorkindergärten, Kindergärten, Primarschule und Oberstufe an. Rund 270 Kinder besuchen die SalZH in Winterthur und Wetzikon. Hinzu kommen 250 Kinder in Kindertagesstätten.
Der Glaube ist keine Bedingung für den Besuch der Schule. «Es geht vielmehr um eine christliche Grundhaltung, die wir vorleben», erklärt Andrea Meier, Lehrerin und Leiterin Primarstufe an der SalZH – und selbst Mitglied einer Freikirche: «Für mich sind die Kinder Gottes Geschöpfe. Gott hat Gaben und Fähigkeiten in das Kind hineingelegt, die möchte ich fördern und entdecken.»
Warum ist Winterthur ein Freikirchenzentrum?
Eine christliche Schule, eine freikirchliche Siedlung, ein Kongresszentrum und viele soziale Angebote für Menschen am Rande der Gesellschaft: Die Freikirchen sind in Winterthur auffällig präsent. Das zeigt sich auch im Stadtparlament.
Eine Auswertung der lokalen Zeitung «Landbote» im Jahr 2017 hat ergeben, dass 13 Prozent der Mitglieder im Stadtparlament einen freikirchlichen Hintergrund hatten, verteilt auf alle Parteien. Zudem hatte Winterthur lange eine freikirchliche Stadträtin.
Woher also kommt diese Präsenz? Zum einen ist Winterthur tatsächlich ein Freikirchenzentrum, historisch gewachsen. «Die Freikirchen konnten sich lange nur an der Peripherie entwickeln, in Gebieten, in denen die Landeskirchen wenig präsent waren», erklärt Georg Otto Schmid.
Das Zürcher Tösstal und der Thurgau waren solche Gebiete, ebenso das Emmental und das Berner Oberland. Aus dem Tösstal und dem Thurgau zogen dann viele Freikirchenmitglieder nach Winterthur.
Raus an die Öffentlichkeit
Lange Zeit blieben die Mitglieder der Freikirchen unter sich. Die Mehrheitsgesellschaft war ihnen suspekt, die Öffentlichkeit und Medien waren Feindbilder. Wer Freikirchenmitglied war, behielt dies oft für sich. Das änderte sich in den 1990er-Jahren mit dem Aufkommen von ICF und dem damaligen Freikirchenboom.
Andi Kleeli, Pastor der Freien Christengemeinde in Winterthur und bis vor kurzem Vorstandsmitglied der Evangelischen Allianz Winterthur, spricht von einer «Ermutigung zum Coming-out». Die Freikirchen begannen, sich zu zeigen und bauten eine professionelle Kommunikation auf.
Heute wollen sie «in die Gesellschaft hineinwirken». Deshalb die vielen sozialen Projekte.
Freikirchen sind heute in der Öffentlichkeit also viel präsenter als früher. Das bedeutet nicht, dass sie auch mehr Mitglieder haben, betont Freikirchenexperte Georg Otto Schmid: «Anders als vor 30 Jahren boomen die Freikirchen heute nicht mehr.»
Nachwuchs gesucht
Zwar wüchsen einzelne Gemeinden, jedoch meist auf Kosten anderer Freikirchen. Und: Auch Freikirchen hätten Nachwuchssorgen.
«Früher blieben praktisch alle in der Freikirche, die dort aufgewachsen waren. Heute ist das anders», sagt Schmid.
Mit etwas Verspätung wird hier eine Entwicklung nachvollzogen, die auch die Landeskirchen kennen. Zudem schrecken die konservativen Werte der Freikirchen viele Jugendliche ab.
Wertekonservativ – und damit unattraktiv?
«Die Bibeltreue ist ein zentrales Element der Freikirchen», erklärt Georg Otto Schmid. Das Neue Testament wird oft buchstabengetreu ausgelegt, was unter anderem zu einer sehr traditionellen Sexualmoral führt.
Kein Sex vor der Ehe gilt noch immer in vielen Freikirchen. Ebenso bekunden viele Mühe mit Homosexualität, sagt der Freikirchenexperte.
Auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau hält erst langsam Einzug. «Das wirkt auf Junge ausserhalb des Freikirchenmilieus nicht gerade anziehend», so Schmid.
Fest steht: Winterthur ist ein Zentrum für Freikirchen in der Schweiz. Wegen ihres sozialen Engagements und der professionellen Öffentlichkeitsarbeit werden sie wahrgenommen, auch in der Politik. Was wiederum zu mehr Aufmerksamkeit führt – und auch zu mehr Kontrolle.
Wie viel Einfluss die Freikirchen in Winterthur tatsächlich haben, lässt sich also schwer beantworten. Sicher ist, dass sie sich als Teil der Gesellschaft wahrnehmen, in der sie sich zeigen und engagieren wollen. So, wie das die Freikirche GvC mit ihrer Quellenhof-Stiftung und ihrer neuen Siedlung «Town Village» gerade sehr offensiv tut.