Die anstehende WM in Katar ist auch eine Kunstturn-Disziplin: ein Spagat zwischen sportlicher Begeisterung und Kritik am Gastgeberland. Wie geht man damit um? Ein philosophisches Pro und Contra.
Barbara Bleisch: Warum ich nicht einschalte
«Dass die WM in Katar ein sportpolitischer Skandal ist, bestreitet niemand: Korruption und Spionage bei der Vergabe, Ausbeutung von Wanderarbeitern, ein erbärmlicher Menschenrechtsschutz vor Ort, eine Umweltbelastung, die das Emirat nie und nimmer ausgleichen wird.
Dennoch ist am 20. November Anpfiff, ob wir die Spiele verfolgen oder nicht. Der private Boykott hilft scheinbar keinem.
Wobei das noch niemand ausprobieren konnte. Stellen wir uns vor, es ist WM und keiner schaltet ein! Die Fifa-Funktionäre würden begreifen, dass Fans eine solche Vergabe nicht dulden. Korrupte Regimes würden in Zukunft zögern, ob sie auf ‹Sportswashing› setzen: Mit sportlichen Grossanlässen von politischen Missständen im eigenen Land ablenken, zahlt sich nicht aus, wenn keiner zuschaut.
Als würde man eine Ausstellung mit Raubkunst bewundern: hübsch anzusehen, schwer auszuhalten.
Aber wird am Ende nicht doch bei den meisten die Lust am Spiel obsiegen? Mein privates Opfer ist dann nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein: naiv und wirkungslos.
Wer meint, in ethischen Fragen gehe es allein um die Folgen, hat allerdings ein amputiertes Ethikverständnis. In der Ethik geht es immer auch um das Bestreben, unser Handeln vor uns selbst rechtfertigen zu können. Wer sich an einem Spiel ergötzt, für dessen Rahmenbedingungen andere mit dem Leben bezahlt haben, wird zurecht von einem unguten Gefühl befallen. Das fühlt sich an, als würde man eine Ausstellung mit Raubkunst bewundern. Hübsch anzusehen, schwer auszuhalten.
Ich lasse mir meinen kleinen Handlungsspielraum nicht nehmen und schalte nicht ein. Oder wenn, dann nur mit schlechtem Gewissen.»
Wolfram Eilenberger: Nicht die Fans müssen die Verantwortung tragen
«Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die anstehende Weltmeisterschaft in Katar ist ein fussballkulturelles Verbrechen, ein sportpolitischer Missgriff und ein ökologisches Desaster. Sie hätte niemals dorthin vergeben, niemals dort stattfinden dürfen.
Ein Boykott der teilnehmenden Verbände stand indes nie ernsthaft zur Diskussion. So soll der Skandal nun vor dem inneren Gerichtshof der Fussballfans zur Lösung kommen. Die moralische Forderung lautet: einfach nicht einschalten, die WM als Fernsehereignis boykottieren.
Anstatt mit guten, werden wir nun also mit schlechten Gewissen mitfiebern. Ihr wisst, wir können kaum anders.
Schon begrifflich keine gute Idee. Denn ein individueller Konsumverzicht ist eben das, ein freiwilliger Verzicht (ein ‹Boykott›, der diesen Namen verdient, wird hingegen kollektiv bindend von Staaten oder Institutionen ausgesprochen). Von den Milliarden Fussballliebenden weltweit zu verlangen, ihre gewusst irrationale und tief emotionale Leidenschaft für mehr als vier Wochen im Modus eines moralisch motivierten Verzichts zu zügeln, verlagert die Schuld- wie Verantwortungsfrage selbst in unmoralischer Weise.
Schämen und aktiv kasteien sollten sich nicht wir, sondern die Fifa-Funktionäre sowie alle Sponsoren, die diese vermaledeite Entscheidung mittrugen und -tragen. Ihr habt uns verraten!
Was ein wahres Fest sportlicher Freiheit, geteilter Spielfreude und globaler Gemeinschaft hätte werden können, wurde durch eure schmierigen Deals, eure blinde Gier und eure zynische Gleichgültigkeit im Vorhinein verdorben.
Anstatt mit guten, werden wir nun also mit schlechten Gewissen mitfiebern. Ihr wisst, wir können kaum anders. Schämt euch, wandelt euch.
Es lebe der Fussball und seine heilenden Kräfte!»