Verlässt man die wunderschönen Küstenstrassen zwischen Cecina und Civitavecchia, stösst man alsbald im toskanischen Hinterland auf mittelalterliche Dörfer und etruskische Ausgrabungen. Erwartet die Besuchende hier bloss verstaubte Geschichte? Weit gefehlt.
«Die Welt ist eine Brust»
Unterwegs auf der Via Aurelia entdeckt man über Baumwipfeln einen silbern glänzenden Turm. Daneben ragt keck die Spitze einer roten Rakete in den Himmel. Es sind erste Zeichen des von Farben und Formen überquellenden Tarot-Gartens von Niki de Saint-Phalle.
Sie ist eine der prägendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts und wählte die Skulptur als Form des künstlerischen Ausdrucks. Bekannt wurde Niki de Saint-Phalle vor allem mit den farbigen Nanas, die sie ab den 1960er-Jahren mit üppig betonten und runden Formen kreierte.
«Die Welt ist rund, die Welt ist eine Brust. Ich mag keine rechten Winkel, sie machen mir Angst.» Die Symmetrie sei die Hölle, denn: «Die Perfektion ist kalt, das Unvollkommene lebt. Ich liebe das Leben.»
Ein Lebenstraum wurde Realität
Der «Giardino dei Tarocchi» ist denn auch Sinnbild für das Leben. Inspiriert von Antonio Gaudís Park Güell in Barcelona war die Verwirklichung eines mystischen Gartens Niki de Saint-Phalles grosser Lebenstraum.
«Ich würde mich selbst auch nicht als Künstlerin, sondern als Traumumsetzerin bezeichnen», sagte sie. «Wenn ich einen Traum habe, dann muss ich ihn umsetzten. Und ich schaffe es auch.»
Diese Hartnäckigkeit war nötig. Alleine die Bauzeit der 22 teils begehbaren Skulpturen brauchte viel Geduld. Knapp 20 Jahre dauerte es, bis der Tarot-Garten 1998 eröffnet werden konnte. Die Finanzierung war ein schwieriges Unterfangen.
Mit Hilfe lieber Weggefährten
Die Künstlerin finanzierte das Projekt selbstständig. Hierfür bemalte Niki de Saint-Phalle etwa ein Flugzeug im Auftrag eines Zigarettenherstellers oder entwarf ein Parfüm für einen US-Konzern.
Zudem wurde das Projekt von ihrem Ex-Mann, dem bekannten amerikanischen Schriftsteller Harry Mathews, unterstützt. Auch der Schweizer Künstler Jean Tinguely, ihr langjähriger Lebens- und Weggefährte, kaufte viele ihrer Skulpturen zu Galerie-Preisen, um das Projekt voranzubringen. «Es ist wunderbar, von den Männern unterstützt zu werden, die ich liebe», hielt Niki de Saint-Phalle fest.
Leben in der Göttin der Liebe
Im Tarot-Garten verschmelzen Kunst und Leben miteinander. Sind die Figuren auf den ersten Blick künstlerisch verspielt, verbergen sich dahinter zentrale Fragen unserer Existenz: Die Skulpturen sind in Anlehnung an die Trumpfkarten des Tarots gebaut.
Die Figur der Kaiserin etwa symbolisiert das Prinzip der Herzensliebe und der Weisheit. Sie ist Göttin der Liebe, der Schönheit und der schöpferischen Kraft. Die grossbusige Kaiserin mit schwarzem Gesicht, glänzend blauem Haar und roter Krone ist in ihrem Bauch bewohnbar. Die Künstlerin selbst lebte dort während rund acht Jahren.
Kunst statt Irrenanstalt
Mit Spiegelmosaiken und farbigen Lampen verziert, muten die Räumlichkeiten ausserirdisch an. In dieser Zeit schrieb Niki de Saint-Phalle das Buch «Mein Geheimnis», in dem sie das Schwiegen über den väterlichen Inzest vom Sommer 1972 brach.
«Ohne meine Kunst wäre ich sicher in der Irrenanstalt gelandet. Das ist gewiss. Ich hätte in der modernen Welt nicht überlebt.» Der Tarot-Garten als Hauptwerk ihres Schaffens ist darum auch Quintessenz ihres Lebens.
Jean Tinguely sagte anerkennend über Niki de Saint-Phalle: «Sie ist eine äusserst erstaunliche Bildhauerin und Malerin, denn sie schafft stets eine Synthese. Deshalb halte ich sie für die grösste Bildhauerin aller Zeiten.»