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Ein Auftragsmörder wollte von Andrea Seelich einmal wissen, auf welcher Seite sie als Gefängnis-Architektin eigentlich stehe: auf der Seite der Insassen oder des Personals.
Seelichs Antwort kam prompt: «Ich stehe auf der Seite der potenziellen Opfer. Es geht mir um die Opfervermeidung.» Den Auftragsmörder habe diese Antwort überzeugt, erinnert sich Seelich.
Interesse für Freiheit und Zwang
Auf die Frage, warum sie sich ausgerechnet auf Gefängnisse spezialisiert habe, muss die Architektin etwas ausholen. Das Interesse für Freiheit und Zwang wurde ihr schon früh eingeimpft, vermutet die 49-Jährige.
In ihrer Kindheit und Jugend pendelte sie zwischen Kommunismus und Demokratie, zwischen der Tschechoslowakei, den USA und der Schweiz.
Während ihres Architekturstudiums in Prag Anfang der 1990er-Jahre hat sie sich zusehends mit dem Thema Gefängnisarchitektur beschäftigt.
Kaum Fachliteratur
Andrea Seelich stellte allerdings fest, dass es zu ihrem Diplomthema – einem Entwurf für ein Gefängnis – keine Literatur gab.
Dieser Mangel war für sie kein Hindernis. Im Gegenteil: Er war Ansporn, sich hineinzuknien. Und zwar so tief, dass sie auch Kriminologie studierte. Heute beschäftigt sich die Architektin fast ausschliesslich mit Gefängnissen.
In einer engen Zelle wird der Ausblick zum wesentlichen Teil des Raumes.
Ihr 2009 erschienenes «Handbuch zur Strafvollzugsarchitektur» steht in der Bibliothek vieler Gefängnisdirektoren.
Experiment am eigenen Leib
Andrea Seelich war auch das Experiment am eigenen Leib wichtig. Freiwillig hat sie eineinhalb Jahre auf engen neun Quadratmetern gelebt. Sie wollte herausfinden, wie sich diese drastische räumliche Einschränkung auswirkt.
Dabei ist ihr aufgefallen, wie bedeutsam der Blick aus dem Fenster war. Der Ausblick wird zum wesentlichen Teil des Raumes – viel mehr als bei Räumen, die man jederzeit verlassen kann.
Wenn der Ausblick fehlt
Genau dieser Ausblick fehlt im Gefängnis oft – und das hat Konsequenzen. «Negative Haftfolgen kommen durch die sogenannte Deprivation zustande. Das heisst: durch einen Mangel an Sinnes- und Aussenreizen.»
Oft ist die Materialvielfalt armselig. Hochwertiges Licht fehlt. Ebenso die frische Luft, weil sich die Fenster nicht oder nur einen Spalt weit öffnen lassen.
Schweigen und Suizidversuche
Idealerweise sei das Fenster in einer Zelle auf einer Höhe von 1,2 Meter platziert, erklärt Seelich.
«Früher, im sogenannten pennsylvanischen System, waren die Fenster ab einer Höhe von 1,8 Metern platziert. So wurde der Blick des Insassen zum Himmel gelenkt, um ihn so zum Beten und zur inneren Einkehr zu motivieren.»
Das Ziel eines Gefängnisses ist ein Happy End.
Das von den Quäkern religiös beeinflusste pennsylvanische System hatte als Vollzugskonzept das «Silent System», bei dem es den Insassen verboten war, miteinander zu sprechen.
Die Auswirkungen könne man sich denken, sagt Seelich: «Psychische Erkrankungen und Suizidversuche.»
Modern ohne Prügelstrafe
1864 wurde in der Schweiz die Justizvollzugsanstalt Lenzburg eröffnet. Die sternförmige Anlage galt damals als eines der architektonisch modernsten Gefängnisse Europas mit einem fortschrittlichen Betrieb.
Die Prügelstrafe wurde abgeschafft, die Insassen durften arbeiten und erhielten dafür einen minimalen Lohn.
Allerdings ist es heute eine Herausforderung, diese architektonisch markanten Gebäude sinnvoll umzubauen und zu erweitern.
Die Funktion änderte sich
Die Funktion der Gefängnisse hat sich über die Jahre verändert. Ursprünglich lösten die Gefängnisse die Folter und Todesstrafen ab und waren für den Vollzug der Freiheitsstrafe gedacht. Heute ist das anders: Der Fokus der Anstalten liegt auf dem Behandlungsvollzug.
Der gesetzliche Auftrag der Gefängnisse ist die Resozialisierung. «Das Ziel eines Gefängnisses ist ein Happy End: Der Gefangene begeht nach seiner Entlassung keine Straftaten mehr und damit entstehen keine neuen Opfer», bringt es Andrea Seelich auf den Punkt.
Positive Beispiele als Vorbild
Die Frage, ob ein Gefängnis mit einer hohen Rückfallquote demzufolge ein schlechtes Gefängnis sei, möchte Seelich nicht direkt beantworten.
Sie kenne Gefängnisse, in denen sich die Insassen und das Personal nicht wohlfühlten. Wo die Direktion nicht hinter dem Personal stünde, in denen zu viele Leute auf engem Raum untergebracht seien und wo kaum Aussenräume für eine sinnvolle Beschäftigung vorhanden seien.
Das seien Anstalten, die nicht über die Möglichkeiten verfügten, die Insassen in der Resozialisierung wirklich zu bestärken.
Lieber kommt Seelich auf ein positives Beispiel zu sprechen: auf das Hochsicherheitsgefängnis in der norddeutschen Stadt Oldenburg.
«Dort beträgt die Rückfallquote acht bis zehn Prozent. Dies ist dem Anstaltsleiter zu verdanken. Er hat es geschafft, ein höchst engagiertes Team zusammenzustellen und gemeinsam ein bis ins kleinste Detail durchdachtes Betriebskonzept umzusetzen. Der Leiter hört allen Betroffenen zu: dem Personal, den Insassen und den Angehörigen», erläutert Seelich.
Ein Gefängnis wie ein Dorf
Das norwegische Gefängnis Halden, südlich der Hauptstadt Oslo, hat den Ruf, eines der humansten Gefängnisse der Welt zu sein. Die 2010 eröffnete Haftanstalt funktioniert wie ein Dorf.
Die Insassen wohnen in Blockhäusern. Werkstätten, Lernstudios, Fitnessräume und selbst «Ferienhäuser» für Angehörige sind vorhanden. Eine sechs Meter hohe Mauer fasst die Anlage ein.
Den Alltag kennen
Die Basis eines guten Gefängnisses seien immer ein gutes Betriebs- und Vollzugskonzept. Darauf baue die Architektur auf. «Es braucht ein Verständnis dafür, wie das Alltagsleben im Gefängnis aussieht», hält die Expertin fest.
Und fügt kritisch an, dass die meisten Architekten, die so hochkomplexe Bauaufgaben wie ein Gefängnis anpacken, ihr Wissen über Gefängnisse hauptsächlich aus Filmen haben.
«Ehrliche» Materialien
Architektonisch gelte es, einige Regeln zu berücksichtigen. Die Zelle müsse mindestens 12 Quadratmeter gross sein und am besten quadratisch.
Spitze oder stumpfe Winkel seien nur etwas für coole Bilder in Architekturzeitungen und hätten nichts in einem Gefängnis verloren, findet Seelich.
Die Baumaterialien müssten «ehrlich» sein: Beton, Metall, aber auch Holz, das haptisch interessant ist. Plastik sei zu vermeiden, da das Material entweder neu oder alt und kaputt sei, und sich nicht reparieren lasse.
Eine umsichtige Auswahl der Bodenbeläge mit unterschiedlichen Oberflächenstrukturen könne der Deprivation entgegenwirken, ebenso ein kluges Farbkonzept.
Vorurteil «Luxus-Knast»
Bei Gefängnisneubauten wird in der Bevölkerung oft Kritik laut. Zu teuer und zu luxuriös, lauten die Vorwürfe. Seelich schüttelt den Kopf. «Diese Kritik ist absurd, wenn man sich überlegt, dass Gefängnisse staatstragende Gebäude sind.»
Um dem Vorurteil «Luxus-Knast» zu begegnen, habe man in Oldenburg vor der Eröffnung des Gefängnisses 2001 etwas Gescheites gemacht: Interessierte aus der Bevölkerung durften sich bewerben, eine Nacht im Gefängnis zu verbringen, erzählt Andrea Seelich.
Die meisten hätten das am Schluss gar nicht so lustig gefunden, weil das Eingesperrtsein bedrückend war.
Idealfall im Bündner Land
Im bündnerischen Realta bei Cazis entsteht momentan eine neue geschlossene Justizvollzugsanstalt. Der Neubau besteht aus drei Gebäuden: einem 200 Meter langen, dreistöckigen Doppeltrakt mit den Wohn-, Ess- und Schlafbereichen samt Verwaltung.
In einem leicht abgesetzten Gebäudekomplex sind die Bereiche Industrie/Gewerbe sowie Freizeit und Sport angesiedelt.
Im dritten Gebäudetrakt sind Personalzimmer, Spedition, Lager sowie die Küche untergebracht. Zwischen den Gebäuden liegen, je nach Sicherheitslage, abtrennbare Spazierhöfe.
Eine sieben Meter hohe Betonmauer bildet den äusseren Sicherheitsgürtel.
Gemeinsam ein Gefängnis entwickeln
«Beim Architekturwettbewerb wurde kein ideales Wettbewerbsprojekt gesucht, sondern in erster Linie ein Architekt, der gemeinsam mit den Nutzern und Betreibern ein Gefängnis entwickelt», sagt Seelich, die als Jurymitglied beteiligt war.
Für die Architektin ist dieser Zugang zur Bauaufgabe ein Idealfall.
Ende 2019 soll die geschlossene Justizvollzugsanstalt in Realta in Betrieb genommen werden. Sie bietet Platz für 152 Insassen: eine kleine Entlastung, denn in der Schweiz fehlen rund 800 Haftplätze.
Auch hat das Gefängnis einen volkswirtschaftlich willkommenen Nebeneffekt: Es entstehen 80 neue Arbeitsplätze.
Kommt hinzu, dass die geschlossene Vollzugsanstalt wichtige Institutionen in der Nähe hat: eine offene Vollzugsanstalt und die psychiatrische Klinik Beverin.
Das sind gute Voraussetzungen. Denn ein gutes Gefängnis steht nicht allein da.