Dutzende braune Grabhügel lagen vor Daniela Stauffacher. Einer neben dem anderen. Ein paar verwitterte Plastikblumen schmückten die Erdhügel. Auf jedem Grab steckte ein Schild. Darauf stand: «Migrante numero 1», «Migrante numero 2», «Migrante numero 3» – und so weiter.
«Mir wurde schlecht, als ich das sah», erinnert sich die Religionswissenschaftlerin. Das war Anfang 2018. Damals reiste sie nach Süditalien zum Friedhof von Armo.
Ein Friedhof für die Migranten
Auf dem Grabfeld bei Armo liegen mehr als 80 Männer, Frauen und Kinder begraben – gestorben auf der Flucht über das Mittelmeer.
In Armo hat man im Jahr 2016 den Migrantenfriedhof angelegt. Damals schwemmte das Meer dutzende Leichen auf einmal an. Und die Bevölkerung fragte sich: Wohin mit so vielen Toten?
Der Bürgermeister und der Pfarrer von Armo setzten sich für ein eigenes Grabfeld für die Toten des Mittelmeers ein. Es sollte sichtbar sein, dass so viele Menschen auf der Flucht sterben.
Unsichtbar und vergessen
In Armo sind diese Gräber nicht zu übersehen. Ganz anders auf den meisten anderen Friedhöfen in Süditalien. «Man verteilt die Toten auf mehrere Orte. So bleiben sie unsichtbar und werden schnell vergessen», erklärt Daniela Stauffacher.
Gegen dieses Vergessen kämpft die Religionswissenschaftlerin an. Sie forscht seit drei Jahren im Rahmen ihres Dissertationsprojekts zu den Toten des Mittelmeers. Sie dokumentiert, wie die süditalienischen Behörden mit den toten Migrantinnen und Migranten umgehen und welche Bestattungsrituale den Toten zuteilwerden.
Beerdigt ohne Ritual
Monatelang hat Daniela Stauffacher in Kalabrien, auf Sizilien und Lampedusa recherchiert. Sie hat mit unzähligen Personen gesprochen: mit Polizisten, Friedhofsmitarbeitern, Gerichtsmedizinern und mit Priestern.
«Ich dachte zuerst, ein Priester würde bei der Beerdigung eine Zeremonie leiten», erzählt die Forscherin. Das sei meist aber nicht der Fall. Weder ein Priester noch ein Imam seien normalerweise anwesend.
Nur bei den grossen Tragödien, wenn viele Menschen auf einmal sterben, gäbe es eine Zeremonie, sagt Daniela Stauffacher. Dann sei das mediale Interesse gross, dann zeigten sich auch Politikerinnen und Politiker.
Kein lukratives Geschäft
Jede Leiche, die an den süditalienischen Strand gespült wird, untersucht man zuerst in einem Spital. «Oft liegen die Leichen anschliessend lange in den Kühlräumen», so Stauffacher. Niemand hole sie ab.
Tote Migrantinnen und Migranten seien für Bestattungsunternehmen kein lukratives Geschäft, sagt die Forscherin. Der Staat würde sie oft sehr spät bezahlen oder auch gar nicht.
Namenlos begraben
Die meisten toten Migrantinnen und Migranten können nicht identifiziert werden. Sie tragen keine Ausweise mit sich. Zwar würden DNA-Proben genommen, so Daniela Stauffacher. Weitere Nachforschungen gebe es aber kaum. Zu teuer sei es und viel zu aufwendig.
Es wäre aber wichtig, die Toten zu identifizieren, betont die Religionswissenschaftlerin. «Damit die Angehörigen um ihre Liebsten trauen können. Aber auch, damit ein Totenschein ausgestellt wird.» Denn ohne Totenschein gebe es beispielsweise keine Witwenrente.
Hunderte namenlose Tote wurden in Süditalien schon begraben. Zurück bleiben ihre persönlichen Gegenstände.
«Als mir ein Polizist die Plastiktüten mit verwaschenen Fotos, Handys und Rosenkränzen zeigte, wurde mir so richtig bewusst: Diese Dinge gehörten Menschen», erinnert sich Daniela Stauffacher. Mit ihrer Arbeit will sie mithelfen, dass diese Menschen nicht vergessen werden.