Sandro* hockt am Boden in einer Ecke. Er tippt sich heftig mit den Fingern gegen den Kopf. Er bewegt sich seltsam, berührt Wände und Gegenstände um ihn herum, scheint völlig in sich versunken. Sandro lebt in einer Wohngruppe der «Tanne», der Schweizerischen Stiftung für Taubblinde in Langnau am Albis.
Wie sprechen Taubblinde?
Menschen, die von Geburt an taub und blind sind, wissen nicht, wie eine Strasse oder ein Wald aussieht, wie sich eine menschliche Stimme anhört oder warum wir Feste feiern. Wie erleben Taubblinde die Welt?
Sie können es uns nicht schildern. Sie müssen lernen, ohne Gehör, Sicht und Stimme zu kommunizieren, um ihre Gefühle auszudrücken. «Taktiles Gebärden» heisst eine dieser Sprachen.
Taubblinde sind Expertinnen und Experten darin, ihre Umgebung mit dem Körper zu ertasten, nicht nur mit den Händen, sondern mit den Füssen, den Knien, der gesamten Hautoberfläche. Sie spüren Erschütterungen und Vibrationen. Sie schmecken und riechen.
Adventszeit riechen
In der Adventszeit riecht es in der «Tanne» nach Mandarinen, Tannenzweigen, Backwerk. Am Wochenende gibt es immer ein grosses Frühstück, erzählt eine Betreuerin. Dann wabern Gerüche von gebratenen Eiern und frischem Zopf durch die Gänge.
So erfahren die Bewohnerinnen und Bewohner: Das Wochenende ist anders als die Tage dazwischen. Taubblinde brauchen eine zeitliche Struktur, damit sie ein Gefühl für den Lauf der Zeit entwickeln.
Überhaupt läuft die Zeit hier sehr viel langsamer, sagt Mirko Baur, Leiter der Stiftung «Tanne». Es dauert, bis Taubblinde einen Gegenstand oder einen Ort mit ihren Berührungen erfasst haben. Bis sie spüren, wer sich ihnen nähert, was diese Person von ihnen möchte, und ob sie das auch wollen.
Vom Glück, verstanden zu werden
Es nervt Paula*, wenn sie sich nicht verständlich machen kann. Sie gestikuliert intensiv, zieht ein Geldstück aus ihrer Tasche. Dann imitiert sie mit den Händen das Aufklappen eines Buches.
Es sei schwierig und oft eine Gratwanderung, die Wünsche und das Verhalten der Bewohnerinnen und Bewohner zu interpretieren, so die Betreuerin. Schliesslich ahnt sie etwas und holt Paulas Buchagenda hervor. Richtig: Heute ist ein Einkauf vorgesehen.
Endlich fühlt sich Paula verstanden, denn sie will sicherstellen, dass sie auch wirklich mit der Betreuerin einkaufen gehen kann. Glück, sagt die Betreuerin, sei für viele Taubblinde, wenn sie verstanden werden.
Yunus* kann noch kaum kommunizieren. Derzeit lernt er, mit Gebärden anzuzeigen, wenn er hungrig oder durstig ist. Er ist erst seit 1.5 Jahren hier. In einer Kiste liegen seine Bezugsobjekte: Es sind markant geformte Gegenstände, die ihm helfen sollen, sich auszudrücken. Nun muss er lernen, den Löffel aus der Kiste zu nehmen, wenn er Hunger hat. Noch ist er nicht so weit.
Intensiver Geschmackssinn
Unterdessen sitzt Sandro am Tisch. Mit einem grossen Löffel schiebt er sich ein Stück Kuchen in den Mund – und erstarrt. Die Betreuerinnen lachen. Der Kuchen schmeckt so süss und intensiv, dass es ihn kurz überwältigt.
Zwischen den Bissen tippen Sandros Finger weiter heftig gegen sein Gesicht. Aber wenn er die Hand der Betreuerin berührt, die neben ihm sitzt, tut er dies unendlich sanft. Im Kontakt mit anderen Menschen seien seine Berührungen nie heftig, nur gegen sich selbst, so eine Betreuerin.
Paul* liebt Musik und Klänge. Er hört ein klein wenig, sieht aber nichts. Er geht gerne in die Kirche. Wenn dort Musik erklingt, weint er manchmal.
Spiritualität spüren
Haben Taubblinde eine Vorstellung von Weihnachten? Mirko Baur ist überzeugt davon. Die Stimmung, die Gerüche, die besonderen Aktivitäten vermitteln ihnen: Jetzt ist wieder diese feierliche Zeit im Winter.
Doch das jährliche Adventsspiel mit und für Taubblinde und ihre Angehörigen ist dieses Jahr wegen Corona abgesagt. Sie werden trotzdem zu einer sicheren Besuchszeit in die Kirche gehen. Paul wird dabei sein.
Auch für viele Taubblinde sei Spiritualität etwas Wichtiges, sagt Zentrumsleiter Baur. In seinen Augen verfügen sie zuweilen über besondere, für uns geheimnisvolle Wahrnehmungskanäle.
Sie können zum Beispiel in einem Ritual kollektive Trauer, Freude oder Feierlichkeit spüren. Man kann diese Art, die Welt wahrzunehmen, auch Spiritualität nennen.