Das Matterhorn, auch liebevoll «Horu» genannt, ist eine Schweizer Ikone. Seit die ersten Bergsteiger ein Auge auf den Berg geworfen haben, ist er nicht mehr aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit verschwunden.
Einst wurde das Matterhorn gemieden. Einheimische Legenden erzählten von Eis, Kälte und bösen Dämonen, die am Berg wohnten. Das änderte sich, als Biologen und Geografen sich in die hochalpine Bergwelt vorwagten. Künstler, Touristinnen und Bergsteiger folgten ihnen.
Um 1860 bot der britische Unternehmer Thomas Cook die erste Pauschalreise in die Schweiz an. Der Zermatter Hotelbesitzer Seiler beherbergte die in Scharen kommenden englischen Touristen.
Das nun in Alpen-Reiseführern erwähnte Matterhorn wollte bestaunt werden – und erobert: Ein Wettlauf begann, wer als Erstes das Matterhorn erklimmen würde.
Der Bergsport wurde zum beliebten Nervenkitzel der Oberschicht. Montblanc, Jungfrau, Piz Bernina: Sie alle wurden bestiegen. Nur das Matterhorn galt als unbezwingbar.
14. Juli 1865: Erstbesteigung
Die meisten Gipfelstürmer kamen aus England. So war es auch ein Brite, der nach jahrelangen Versuchen als Erster den Gipfel des Matterhorns erreichte. Sein Name war Edward Whymper. Nach Zermatt schickte ihn sein Verleger, denn Whymper war Illustrator.
Weltweit für Schlagzeilen sorgte hauptsächlich das Ereignis nach dem Gipfelsturm: ein Fehltritt, ein Schrei, ein gerissenes Seil – vier der sieben Kletterer stürzten beim Abstieg ab. Darüber, was genau geschah, wird heute noch diskutiert.
Die Touristen liessen sich davon nicht abschrecken, im Gegenteil: Der Todeskitzel machte den Berg noch reizvoller.
22. Juli 1871: Die erste Lady auf dem Horn
Auch einzelne Frauen kletterten auf Berge – entgegen der gesellschaftlichen Norm. Sie riskierten viel, auch wegen ihrer Garderobe: Dem Zeitgeist entsprechend kletterten sie im Flanell-Rock.
Sechs Jahre nach dem ersten Mann schaffte es die 34-jährige Britin Lucy Walker auf den Gipfel des Matterhorns.
Auch wenn Lucy Walker über Nacht berühmt wurde, blieben Gipfelstürmerinnen eine Seltenheit. Der Bergsport widerspiegelte die gesellschaftlichen Verhältnisse. So gründeten später Schweizer Bergsteigerinnen den Schweizerischen Frauen-Alpenclub SFAC, weil sie im offiziellen Schweizer Alpen-Club SAC unerwünscht waren.
1898: Die Technik erobert das Matterhorn
Ende des 19. Jahrhunderts griff das Bergbahnfieber um sich: Schweizer Ingenieure glaubten fast vorbehaltlos an die Technik.
Je tollkühner das Projekt, desto lukrativer die Einnahmen aus dem Tourismus. So wurde 1898 in Zermatt die Gornergratbahn eröffnet, die erste elektrische Zahnradbahn Europas. Sie eröffnete Besuchern einen spektakulären Blick aufs Matterhorn.
Es gab noch ambitioniertere Projekte: eine Matterhornbahn, die Touristen direkt unter den Gipfel hätte bringen sollen. Massiver Widerstand regte sich. Der Schweizer Heimatschutz und Einheimische forderten: «Hände weg vom Matterhorn!» Die Gipfel «unserer Alpen» seien «Eigentum des Schweizervolkes» und somit «unverkäuflich».
Spätestens seit diesem patriotisch angehauchten Protest wurde das Matterhorn als Symbol der Schweiz vermarktet, obwohl es auch auf italienischem Boden steht.
14. Juli 1965: 100 Jahre Erstbesteigung
Das Matterhorn wird seither immer wieder gefeiert. Vor allem, wenn sich dessen Erstbesteigung jährt. Zum 100. Jahrestag etwa produzierte das Schweizer Fernsehen 1965 eine aufwendige Live-Sendung.
Anlässlich des 150. Jahrestags wurde der Berg gesperrt, um den Opfern der Erstbesteigung Respekt zu zollen. Es war einer der wenigen Tage, an denen niemand das Matterhorn bestieg. Mit der Erstbesteigung hat ein regelrechter Sturm aufs Matterhorn begonnen.
1970er-Jahre: Alle wollen sie aufs Matterhorn
An Spitzentagen im Sommer versuchen über 100 Kletterer das Matterhorn zu bezwingen. Die Gipfelaspiranten kommen aus aller Welt. In TV-Beiträgen der 1970er-Jahre ist von «Völkerwanderungen» aufs Horn die Rede.
2000er-Jahre: Das Matterhorn bröckelt
Das Matterhorn erlebt den Wandel der Zeit am eigenen Leib: Der Klimawandel setzt dem Prestigegipfel zu. Der Permafrost, der den Berg im Innern zusammenhält, taut auf. Der «Patient Matterhorn» wird instabiler, es kommt vermehrt zu gefährlichen Felsstürzen.
Etablierte Bergsteigerrouten könnten bald nicht mehr begehbar sein. Forscher und Wissenschaftlerinnen haben zahlreiche Messinstrumente am Matterhorn installiert. So hoffen sie, Felsstürze besser voraussagen zu können.
2013: Der Berg aus neuem Blickwinkel
Die Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) vereinen Alpinismus mit Weltraumforschung: Sie nutzen Satellitendaten, um hochauflösende Geländemodelle zu berechnen.
Keine Fotokamera schafft diese Genauigkeit: Jede steil abfallende Wand, jeder Zacken im Grat und jede lawinengefährdete Passage sind zu erkennen. So können Bergsteiger mit 3-D-Brillen am Computer ihre Routen planen.
2020: Das Matterhorn erobert Instagram
Heute stehen sich Influencer zu Hunderten am Fuss des Matterhorns die Beine in den Bauch. Vom meistfotografierten Berg der Welt gibt es eine offizielle Karte mit vielversprechenden «Fotopoints».
Die fast perfekte Pyramidenform des 4478 Meter hohen Felsmassivs ist auch äusserst #instagrammable.
Auch zu Beginn der Corona-Pandemie schaute die Welt aufs Matterhorn. Der Lichtkünstler Gerry Hofstetter projizierte die Flaggen der von der Pandemie betroffenen Staaten auf den Berg.
Das Matterhorn symbolisiere Kraft und Halt, liess die Gemeinde Zermatt verlauten. Man wolle Solidarität zeigen und Hoffnung stiften. Wenn ein Berg das kann, dann wohl das Matterhorn.
Staatsmänner wie Alain Berset, Narendra Modi und Sebastian Kurz und tausend andere Social-Media-User teilten die Bilder des beleuchteten Matterhorns.
So kristallisierten sich ein weiteres Mal die Sehnsüchte der Gesellschaft am ikonischen Nationalberg.