47 Kilo Fleisch verzehren Herr und Frau Schweizer durchschnittlich pro Jahr. Ein üppiges Geschnetzeltes gilt immer noch als Inbegriff kulinarischen Glücks. In anderen Ländern verhält es sich ähnlich: Der weltweite Fleischkonsum steigt von Jahr zu Jahr an. Vor allem Schweinefleisch und Geflügel werden immer beliebter.
Der Philosoph Thomas Macho hat sich intensiv mit der Kulturgeschichte des Fleischkonsums auseinandergesetzt – und legt ein lehrreiches Buch zum Thema vor. Der 70-Jährige – ein Mann der grossen Horizonte – nimmt dabei die letzten 300'000 Jahre Menschheitsentwicklung in den Blick.
Vom Gejagten zum Jäger
«Der frühe Homo sapiens, davon darf man ausgehen, hat den Beutegreifern in der afrikanischen Savanne zunächst einmal als Speise gedient», mutmasst Macho. «Und bevor unsere Vorfahren sich zu erfolgreichen Jägern entwickelt haben – vor allem dank ihrer Fähigkeit, in arbeitsteiligen Gruppen zu kooperieren – waren sie mit Sicherheit in erster Linie Aasfresser.»
Der frühe Mensch dürfte sich nicht nur von Pflanzen, Früchten, Samen und Nüssen ernährt haben. Sondern auch an den Kadavern von Springböcken, Zebras und Gnus, die geschicktere Jäger wie Löwen und andere Raubkatzen übrig gelassen haben.
Massentierhaltung ist ein Irrweg
In seinem Buch «Warum wir Tiere essen» beleuchtet Thomas Macho das Thema Fleischkonsum aus den verschiedensten Blickwinkeln. Die Philosophie der Mensch-Tier-Beziehung kommt dabei ebenso zur Sprache wie die Entwicklung der menschlichen Zivilisation: von den frühen Jäger- und Sammlerkulturen Ostafrikas bis hin zur industriellen Moderne, in der wir heute leben.
Das, was wir gegenwärtig tun, wird uns ziemlich scheusslich vorkommen.
Thomas Macho ist davon überzeugt, dass die Massentierhaltung in den heutigen Zuchtfabriken ein Irrweg ist: «Wir brauchen eine radikale Ernährungswende», fordert der Philosoph, «auch aus Gründen des Klimaschutzes.»
Die landwirtschaftliche Nutztierhaltung trägt um 40 Prozent mehr zur Erderwärmung bei als der gesamte globale Transportverkehr. Daraus kann man nur eine Forderung ableiten: Wir müssen weg vom Fleisch.»
Was unterscheidet den Menschen vom Tier?
Zwischen Menschen und Tieren habe sich in jüngster Zeit ein grundlegender Paradigmenwechsel vollzogen, stellt Thomas Macho fest: «In der Philosophie unterscheidet man heute längst nicht mehr so kategorisch zwischen Mensch und Tier wie in früheren Zeiten. Die Trennlinie zwischen Menschen und Tieren wird fliessender, durchlässiger.»
Den zweckorientierten Umgang, den wir heute mit Tieren pflegen, werde man schon in einigen Jahrzehnten barbarisch finden, da ist sich Macho sicher: «In 50 oder 100 Jahren – wenn wir bis dahin überleben – wird man das, was wir den Tieren heute antun, nicht mehr verstehen.»
Wenn wir Glück hätten, werde auf das Zeitalter der Verzweiflung und des Nihilismus, in dem wir nach Meinung der französischen Tier- und Umwelt-Ethikerin Corine Pelluchon leben, ein neues, harmonischeres Zeitalter des Lebendigen folgen.
«Ein Zeitalter, in dem wir unsere Verbundenheit mit anderen Lebewesen deutlicher als heute erkennen. Und aus dieser Perspektive wird uns das, was wir gegenwärtig tun, ziemlich scheusslich vorkommen», sagt Macho.
Vom Schnitzel-Tiger zum Brokkoli-Bär
Dass Milliarden Menschen freiwillig auf den Genuss von Fleisch verzichten könnten, mag im Moment noch wie eine verwegene Utopie erscheinen. Aber der Mensch ist in letzter Instanz – und entgegen allem Augenschein – doch ein vernunftbegabtes Wesen.
Kraft seines Verstandes ist es dem Homo sapiens im Laufe des Zivilisationsprozesses gelungen, seinen Aggressionstrieb und seine Sexualität einigermassen zu kultivieren. Was spräche dagegen, könnte man fragen, dass der Homo Sapiens in Zukunft auch seine Ernährungsgewohnheiten zivilisiert?
Ein Leben ohne Fleisch, meint Thomas Macho, ist möglich. Ob ihm die Steak-Liebhaberinnen und Schnitzeltiger auf seinem Weg folgen wollen, wird sich weisen.