Wer nach den eidgenössischen Wahlen im Oktober 2015 die Berufe der neugewählten Politiker betrachtete, stellte fest, dass viele von ihnen die Politik zum Beruf machten. Hat das Milizsystem ausgedient?
Sarah Bütikofer: Beim heutigen National- und Ständerat kann man nicht mehr von einem Milizparlament sprechen – sofern wir darunter das traditionelle Modell verstehen. Milizparlament heisst, dass Berufsleute aus den verschiedensten Branchen im Parlament zusammenkommen und sich neben ihrer beruflichen Laufbahn in Bern politisch betätigen. Nach den Sessionen gehen sie wieder an ihren angestammten Arbeitsplatz zurück.
Wenn das Parlament kein Milizparlament mehr ist, was ist es dann?
Man spricht in der Schweiz seit längerem von einem Halbberufsparlament. Diesen Begriff verwenden nicht nur die Politologen, sondern auch die Bundesbehörden. Zwar stehen Politikerinnen und Politiker nach ihrer Wahl noch mit einem Bein im Beruf, aber sie stecken ihre Ambitionen zurück, wenn sie ins Parlament gewählt werden.
Welche Gründe gibt es für diesen Trend?
Die Parlamentsreform zu Beginn der 1990er-Jahre trug zu dieser Entwicklung bei. Sie hatte zum Ziel, die Arbeit in den Räten professioneller und effizienter zu gestalten. Dabei wurden etwa die Ad-hoc-Kommissionen des National- und Ständerats ersetzt durch ständige Kommissionen. Dadurch wurde die Arbeitsbelastung der Parlamentarier grösser. Sie arbeiten zum Teil in bis zu vier Kommissionen.
Hinzu kommt, dass den Räten – als Folge der Parlamentsreform – höhere Entschädigungen ausbezahlt werden. So ist es finanziell eher möglich, die berufliche Tätigkeit zugunsten der Politik zu reduzieren.
Inwiefern beeinflussten die Medien diese Entwicklung?
Heute werden Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Öffentlichkeit und in den Medien anders wahrgenommen als noch vor zwanzig, dreissig Jahren: Sie sind sichtbarer, präsenter und letzten Endes auch gefragter – die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit fressen Zeit.
Ein weiterer Grund: Gute Parlamentarier müssen heute über viel Sachwissen verfügen. Sich dieses anzueignen, ist zeitintensiv. Haben sie keine Zeit dafür oder keine persönlichen Mitarbeiter, dann sind sie viel empfänglicher für die Einflussnahme von aussen – durch Lobbyorganisationen, Firmen und Verbände.
Die CVP, die SP und die Grünen haben im Gegensatz zu SVP und FDP mehr Räte, die fast ganz auf die Politik setzen und in ihrem angestammten Beruf kaum mehr präsent sind. Wie kommt es zu diesen Unterschieden?
Das hat damit zu tun, dass in der SVP und der FDP viele Selbstständigerwerbende wie Anwälte und Berater sowie Unternehmer vertreten sind. Diese können die Zeit, die sie für ihr berufliches Engagement im Betrieb aufwenden, eher selbst einteilen als Angestellte, die am Arbeitsplatz bestimmte Präsenzzeiten erfüllen müssen.
Beitrag zum Thema
Sehen Sie Möglichkeiten, wie das Parlament in Zukunft professioneller und effizienter arbeiten könnte, ohne gänzlich zum Berufsparlament zu werden?
Die Sitzungstermine sind seit Jahrzehnten gleich organisiert. Die Räte kommen viermal im Jahr für drei Wochen am Stück nach Bern. Sessionen, Kommissionssitzungen, die «normale» Berufskarriere und das Familienleben unter einen Hut zu bringen – das ist heute für viele Politikerinnen und Politiker kaum mehr machbar.
Dieses Organisationsmodell stammt aus einer Zeit, als die Parlamentarier für ihr politisches Amt in die Bundeshauptstadt reisten. Sie liessen die Familie zu Hause, wo die Frau zum Rechten schaute. Das ist heute nicht mehr selbstverständlich der Fall. Mit einer organisatorischen Reform liessen sich da wohl schon Erleichterungen schaffen.