Es gehört heute zur Innenstadt wie ein Café oder ein Kino: das Warenhaus. Entstanden ist es Mitte des 19. Jahrhunderts, als man Basare nach orientalischem Vorbild zu überdachen begann. Etliche Einzelhändler hatten sich zusammengeschlossen und boten ihre Waren feil. Bald schon fasste man diese Einzelhändler in mehrstöckigen Gebäuden zusammen.
«Le Bon Marché» – das erste Warenhaus der Welt
Der Impuls dazu kam aus Frankreich. In Paris gründete der Stoffhändler Aristide Boucicaut Mitte des 19. Jahrhunderts das Warenhaus «Le Bon Marché» – es gilt als erstes Warenhaus der Welt. Dieses Warenhaus ist Vorbild für den Roman «Au Bonheur des Dames» des Franzosen Émile Zola. «Es war eine Kathedrale des neuzeitlichen Handels, kraftvoll und beschwingt zugleich, gerüstet zur Aufnahme eines ganzen Volkes von Kunden», beschreibt der Romancier das Warenhaus.
Zolas Roman und andere literarische Erzeugnisse, aber auch Sachtexte wie medizinische Fallgeschichten, soziologische Studien, Gesetze, Warenhauskataloge und Verkäuferschulungen hat der Literaturwissenschaftler Uwe Lindemann von der Universität Bochum zusammengetragen und ausgewertet.
Zehn Jahre haben seine Untersuchungen gedauert. Ihn interessierte dabei, wie sich die Konsumwelt im 19. Jahrhundert verändert hat. «Plötzlich gab es einen Überfluss an Waren», sagt Uwe Lindemann. Schnell fokussierte er in der Recherche auf die Warenhäuser.
Umtauschen war der neuste Schrei
Denn die Warenhäuser boten billig produzierte Massenware an, man bezahlte bar. Und – wichtigste Neuerung dabei – man konnte die Waren bei Missfallen umtauschen. «Ich habe gemerkt, dass sich am Warenhaus viele Debatten entzünden. Einerseits über die Rolle und Funktion dieser modernen Konsumgesellschaft. Aber andererseits auch darüber, was Moderne und Modernisierung überhaupt ist», so Lindemann.
Nicht nur in Frankreich, auch andernorts in Europa und den USA gründete man fleissig Warenhäuser. Plötzlich hatte die bürgerliche Frau neue Möglichkeiten: Sie konnte entspannt durchs Angebot der Auslagen stöbern – ohne Kaufzwang, und ohne Begleitung des Mannes. Die Warenhäuser waren Inszenierung und Verführung: «Was früher Schlösser, Kirchen und andere Bauten ausstrahlten, etwas Repräsentatives, hatte man durch die Warenhäuser plötzlich mitten in der Stadt. Mit einem Unterschied: Der Raum war zugänglich für alle», sagt Lindemann.
Das war ein entscheidender Punkt: «Die Angestellten im Warenhaus mussten alle Kundinnen gleich behandeln – egal ob gehobene Dame oder Arbeiterin.» Im 19. Jahrhundert hat sich der Konsum im wahrsten Sinne demokratisiert. Die Kundschaft war mehrheitlich weiblich – wie auch das Verkaufspersonal.
Ein neuer Raum für Frauen
Mit der Verkäuferin hatte die Moderne einen neuen Frauentypus geschaffen. Lindemann siedelt die Verkäuferin zwischen der bürgerlichen Frau und der Prostituierten an. «Die Verkäuferin ging zwar einem bürgerlichen Beruf nach, war jedoch genauso öffentlich wie das leichte Mädchen.» In einer Zeit, in der für Frauen einzig Ehe und Mutterglück als Lebensziel formuliert wurde, war die ledige Verkäuferin relativ ungeschützt und leicht auszunutzen.
Das Warenhaus war ein Raum, der von Frauen besetzt wurde. Was die Frau dort machte, blieb den Männern, die damals für den Gelderwerb zuständig waren, oftmals schleierhaft. Das liess viel Platz für Fantasien.
Krankheitsbilder aus dem Warenhaus
So stellte Uwe Lindemann anhand seiner Quellen fest, dass gewisse Krankheitsbilder plötzlich am Warenhaus, und darin an Frauen festgemacht wurden. Kleptomanie beispielsweise, oder etwas ganz neues: der Kaufrausch, die Oniomanie. «Als Krankheitsbilder sind sie von der Psychologie unwidersprochen», sagt der Experte, «doch es gibt eine solche Häufung der Fälle in Zusammenhang mit Frauen und Warenhaus, dass der Verdacht aufkommt, dass das nicht der Wahrheit entsprechen kann.»
Uwe Lindemann hat Quellen bis 1940 ausgewertet. Mit dem Zweiten Weltkrieg fand die unbeschwerte Konsumkultur in Europa ein jähes Ende. Die Gesellschaft kämpfte mit ganz anderen Problemen.