Macht unsere Gesellschaft die Menschen kaputt?
Arno Gruen: Unsere Gesellschaft macht es für Menschen schwierig, ihre eigenen Schmerzen zu erkennen, weil sie als Schwäche empfunden werden. Aber Schmerz kann die Basis einer empathischen Entwicklung sein. Ein Mensch, der Schmerzen empfindet, ist nicht gleich schwach.
Schmerzen gehören zu uns Menschen. Besteht diese Gesellschaftsstruktur, in der Schmerzen als Schwäche gesehen werden, in der Schmerzen verleugnet werden, schon seit jeher?
Erst in den letzten 10‘000 Jahren hat sich unsere Gesellschaft in diese Richtung entwickelt. Wir tun zwar so, als ob wir Schmerzen nicht verleugnen – aber wir verleugnen sie dauernd. Eine Studie der Universität St. Gallen zeigt etwa, dass Manager viel weniger empathische Fähigkeiten haben als eine Gruppe von kriminellen Psychopathen, die im Gefängnis sitzen.
Früher und auch in sogenannten «primitiven» Gesellschaften bleiben Menschen mit ihren empathischen Wahrnehmungen verbunden. Empathie ist eine Fähigkeit, mit der wir geboren werden. In unserer Gesellschaft wird sie aber unterdrückt.
Sollten wir uns also an «primitiven» Gesellschaften ein Beispiel nehmen?
Wir können von ihnen lernen, wieder mit unseren eigenen Gefühlen zu Rande zu kommen. Viele Zugänge machen das unmöglich: Zum Beispiel, wenn Menschen versuchen, Leistungsdruck auf ihre Kinder auszuüben. Diese Kinder besitzen dann nicht die Fähigkeit, auf die Schmerzen anderer einzugehen.
Sie hatten selbst einen sehr frühen und intuitiven Zugang zu ihren eigenen Gefühlen. Es gibt da eine Anekdote aus ihrer früheren Schulzeit.
Unsere Lehrerin Fräulein Goldmann in Berlin meinte, wir seien frech geworden und sie müsse deshalb einen Rohrstock kaufen. Sie nahm ihr Portemonnaie aus der Tasche und wollte wissen, wer im Laden gegenüber einen Rohrstock kaufen würde. 28 Schüler meldeten sich freiwillig. Ich war der einzige, der sich nicht meldete.
Angst scheint mir ein Motiv zu sein, das uns von klein auf begleitet. Ist es eine Art Angst vor einer Ohnmacht, vor Schmerz?
Die Angst hat mit Schmerz zu tun. Wenn ein ganz kleines Kind Schmerzen hat oder traurig ist und die Mutter oder der Vater damit umgehen kann, dann schadet der Schmerz dem Kind nicht – im Gegenteil. Wenn aber Eltern den Schmerz nicht tolerieren und das Kind den Schmerz als Schwäche erlebt, dann macht der Schmerz dem Kind Angst. Empathie kann Menschen aber stark machen, gerade weil sie Schmerz erleben.
Die «Tragödie» beginnt also in der Frühphase unserer Kindheit. Wie verhält man sich als junge Eltern richtig, damit aus dem Menschlein ein glücklicher Mensch wird?
Beiträge zum Thema
Mütter, Väter, Verwandte müssen auf die Gefühle und die Bedürfnisse der Kinder eingehen. Sie sollten nicht die Idee verfolgen, dass man Kinder sofort in die Unabhängigkeit führen muss.
Denn wie die Anthropologin Meredith Small erklärte: Babys sind bei der Geburt neurologisch noch nicht vollkommen entwickelt. Diese Entwicklung wird erst durch eine symbiotische Beziehung von Mutter und Kind, beziehungsweise Vater und Kind, vollendet. Stattdessen streben viele Eltern an, dass diese Bindung so schnell wie möglich unterbunden wird, damit das Baby unabhängig wird. Das ist das Problem: Wir produzieren eine Unabhängigkeit, die voller Angst ist. Denn die Eltern sind in einem ständigen Konflikt mit ihrem Kind. Dadurch wird das Empathische verdrängt – und die Kinder fühlen sich hilflos.
Ein Phänomen unserer Zeit ist auch, dass wir die Kinder verwöhnen, weil sie sich zu sehr in der Schule einpassen müssen. Sie sind ein vehementer Kritiker dieses Verwöhnens.
Verwöhnen hat nichts mit Liebe zu tun. Es ist ein Versuch, das Gegenüber dahin zu bewegen, wo wir es wollen. Verwöhnen ist eine Art und Weise zu bestimmen, wie ein Kind sein soll. Das hilft einem Kind nicht. Ein Kind verachtet die Eltern am Ende.