Sehen Sie Asli Erdogan eher als Schriftstellerin oder als politische Aktivistin?
Lucien Leitess: Das kann man im Grunde gar nicht auseinanderhalten, schon gar nicht in der Türkei, wo die Schriftsteller noch moralische und kulturpolitische Instanzen sind – wie wir es bei uns gar nicht mehr gewöhnt sind.
Sehr viele Autoren haben Kolumnen und Asli Erdogan gehört da auch dazu. Sie ist immer schon aufgefallen durch ihre pointierten, politisch sehr radikal-demokratischen Positionen.
Wegen dieser Kolumnen in der kurdischen Tageszeitung «Özgür Gündem» wurde Asli Erdogan verhaftet. Welche Rolle spielen diese tagesaktuellen Kolumnen in der Türkei?
Die Zeitung «Özgür Gündem» ist immer bekannt gewesen dafür, dass sie praktisch die einzige Stimme der kurdischen Bevölkerung war. Daher ist die Entscheidung für diese Zeitung zu schreiben – und Asli Erdogan war ausserdem gewissermassen im Beirat dieser Zeitung – schon eine politische Stellungnahme.
Asli Erdogan war auch immer wieder an der syrischen Grenze präsent, als es Unterstützungsaktionen für die syrischen Kurden gab, rund um Kobane zum Beispiel. Da war sie an vorderster Front.
Sie ist eine zerbrechliche Person, eine sehr feinnervige Gestalt, sehr sensibel und dennoch immer im Mittelpunkt dieser wirklich sehr harten Kämpfe in der Türkei.
In Ihrem Verlag ist Asli Erdogans «Die Stadt mit der roten Pelerine» erschienen. Es ist das einzige Buch, was auch auf Deutsch herausgekommen ist. Was zeichnet diesen Roman aus?
Diesen Roman zeichnet aus, dass es eigentlich kein türkisch-scheinender Roman ist, sondern die Geschichte einer jungen Frau, die in Rio de Janeiro, mitten einer ganz anderen, fremden, anders vitalen Welt, ein Sabbatical verbringt.
Wie diese Stadt sie herausfordert, aus ihrer ganzen Vergangenheit heraus, das erzählt Asli Erdogan auf eine Weise, die für uns alle gelten mag, weil wir immer wieder in neue Welten geworfen werden. Auch Asli Erdogan hat eine sehr weltläufige Biografie, sie war am CERN, sie kennt Europa, sie kennt die USA. Sie fühlt sich durchaus als moderne Frau.
In der Türkei wurde es immer gefährlicher für Asli Erdogan in den letzten Jahren. Hatte sie denn in Erwägung gezogen, die Türkei zu verlassen, nachdem sie immer mehr unter Druck geraten ist?
Ja, immer wieder fühlte sie sich gefährdet. Sie ist dann jeweils für einige Zeit nach Europa gegangen, kehrte aber immer wieder zurück in die Türkei. Es ist ihr Land, ihre Leidenschaft und ihre Existenz sind dort unten.
Sie hatte Angst davor, verhaftet zu werden und hatte deswegen schon schlaflose Nächte als sie 2012 Writer in Residence in Zürich war. Ausserdem schrieb sie viel über den Zustand türkischer Gefängnisse. Hatte sie geahnt, was passieren wird?
Sie wusste bestimmt, dass sie exponiert ist. Viele Autoren wissen, dass sie exponiert sind – und dennoch tun sie es. Die Türkei kann sich glücklich schätzen, dass sie so mutige Autoren hat, die gleichzeitig so grosse Literaten sind.