Blenden wir zurück: Die von Zürcher Behörden 1896 durchgeführte Wohnungs-Enquête kam zum Schluss, dass es in Zürich nur 170 Badzimmer gab – für etwa 150'000 Einwohner. Der Zürcher Historiker Martin Illi sagt dazu: «Die Menschen badeten damals am Samstag in einem Zuber in der Waschküche oder in einem öffentlichen Bad.» Ansonsten blieb nur die Möglichkeit einer «Katzenwäsche» am Wasserhahn.
Teures Heizen
Ein eigenes Badezimmer war also ein ungewöhnlicher Luxus. Gleiches galt für die Wärmeerzeugung in den Häusern. Vor rund 100 Jahren gab es in Zürich zwar schon ein städtisches Gaswerk, aber die entsprechende Versorgung in privaten Häusern war sehr teuer. Im 19. Jahrhundert konnte oft nur in der Küche und in der Stube geheizt werden.
Geheizt wurde mit Kohle und Holz. Dank der einsetzenden industriellen Produktion von gusseisernen Zimmeröfen liessen sich nach und nach auch die übrigen Zimmer und Räume im Winter beheizen.
Aus England und Amerika kannte man zwar die Technik einer dampfbetriebenen Zentralheizung. Deren Betrieb mit warmem Wasser verbreitete sich im Schweizer Wohnungsbau aber erst nach dem 1. Weltkrieg. Das erste Fernheizkraftwerk in Zürich entstand 1928, in anderen Schweizer Städten noch später.
Kultur der Toilette
Moderne Toiletten mit Wasserspülung waren ebenfalls eine Bequemlichkeit, die vor 100 Jahren längst nicht in allen Häusern vorausgesetzt werden konnte. Eine eigene Toilette in der Wohnung war überhaupt erst nach 1880 möglich – damals gelang Sanitärkeramikern die industrielle Herstellung von Klosettschüsseln mit integriertem Siphon, der als Geruchsverschluss diente. Plumpsklo und Abtritte ohne Wasserspülung waren im Schweizer Wohnungsbau lange Zeit üblich.
Zürich hat zwischen 1860 und 1870 ein öffentliches Kanalisationsnetz erstellt, wobei der Kot mit dem so genannten Pariser Kübelsystem gesondert in Kübeln abtransportiert wurde. Der Bau der Abtritte und Toiletten war Sache des jeweiligen Hauseigentümers. In Privathäusern teilten sich oft mehrere Familien eine Toilette in einem Zwischengeschoss. Was die Hygiene betraf, gab es grosse soziale Unterschiede: Während sich eine eigene Toilette mit Wasserspülung in Bürgerhäusern zuerst etablierte, teilten sich in Arbeiterquartieren oft sechs bis acht Familien eine einzige Toilette.
Landflucht
Vor allem in der Zeit nach 1900 kam es in Zürich zu einer dramatischen Wohnungsnot mit vielerorts unzumutbaren Zuständen. Auf der Suche nach Arbeit strömten viele Menschen in die Städte, ohne dass es überhaupt genügend angemessene Möglichkeiten zum Wohnen gab.
«Wenn Dienstboten, Mägde und Knechte überhaupt eine Unterkunft fanden, dann in einer Mansarde ihres Arbeitgebers oder in einem umgebauten Stall oder Scheune», erzählt der Historiker Martin Illi. Die Bevölkerung in den Städten ist damals rasant gewachsen, ohne dass viel neu gebaut oder investiert wurde. Hinzu kommt, dass die Löhne extrem tief waren und oft kaum reichten, um sich mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Wenn rund 50 bis 60 Prozent der verfügbaren Einkünfte für das Essen aufgewendet werden mussten, blieb kaum noch Spielraum für komfortables Wohnen.
Massive Übernutzung
So kam es, dass viele Häuser massiv übernutzt waren. Im 19. Jahrhundert waren viele Menschen ursprünglich Eigentümer eines privaten Hauses, und wer sich das nicht leisten konnte, musste mit zweit- und drittbesten Wohnverhältnissen Vorlieb nehmen.
Es gab zwar private Eigentümer und Investoren, die Mietwohnungen erstellten, diese waren aber lange Zeit für breite Bevölkerungskreise schlicht unbezahlbar. «In Zürich entstanden die ersten Miethäuser erst ab circa 1860, zum Beispiel beim Stadelhofen», so der Historiker Martin Illi.
Das ist denn auch eine Parallele zu heute: Es gab ein Überangebot an teuren Luxuswohnungen. Wenn neue Häuser erstellt wurden, dann am falschen Ort zum falschen Preis.
Kost- und Schlafgänger
Um das ungünstige Verhältnis von Miete und Einkommen auszugleichen, waren viele Haushalte gezwungen, Schlaf- und Kostgänger bei sich zuhause aufzunehmen, die gegen Bezahlung das Recht hatten, in der Wohnung zu schlafen und verpflegt zu werden. Das ging so weit, dass sich Mieter oft nicht nur das Zimmer, sondern auch das Bett teilen mussten.
«Solche Untermietverhältnisse waren damals weit verbreitet», bestätigt Illi. Als die krasseste Form galt die Doppelvermietung von Zimmer und Betten an Schichtarbeiter. Aus verschiedenen Quellen ist bekannt, dass in Zürich damals viele Zimmer doppelt belegt waren: Tags von einem Schichtarbeiter, der in der Nacht in der Fabrik arbeitete, nachts von einem Werktätigen einer anderen Schicht.
Spekulation und Immobilienblasen
Auch die Spekulation mit Immobilien ist insofern nicht eine neue, zeitgenössische Erscheinung. Die Wohnungsknappheit und der Bevölkerungsdruck nahmen damals viele Investoren und Bauherrschaften zum Anlass, aktiv zu werden – weil sie sahen, dass sie mit Miethäusern gute Renditen erzielen konnten. Im Wirtschaftszyklus wechselten sich Investitionsphasen mit dramatischen Einbrüchen ab – ähnlich wie auch in der neueren Zeit in verschiedenen Ländern «Immobilienblasen» platzten.
Die Stadt wird aktiv
Ab 1907 begann die Stadt Zürich als Antwort auf die Wohnungsnot selbst städtische Wohnungen zu erstellen und den gemeinnützigen Wohnungsbau zu fördern; in der Folge wurden auch viele gemeinnützige Stiftungen und Wohnbaugenossenschaften ins Leben gerufen.
Hilfsarbeiter und Taglöhner mit sehr bescheidenen finanziellen Möglichkeiten fanden am ehesten in den kommunalen Siedlungen der Stadt ein neues Zuhause, anstatt weiter in unwürdigen Slumwohnungen zu leben.
Bau für eine andere Welt
Die neuen Genossenschaftswohnungen waren für die damaligen Verhältnisse nicht preiswert. Auffallend ist, dass viele genossenschaftliche Bauten nach dem Ideal der Gartenstadt und als Einfamilienhaus konzipiert wurden – als ob es mit diesem architektonischen Ausdruck darum gegangen wäre, der Arbeiterschaft und den Unterschichten den Wert des Eigentums und eines bürgerlichen Familienlebens zu vermitteln.
Es gab zwar auch Anklänge an den Sozialismus, etwa mit der Errichtung von Gemeinschafts- und Bildungslokalen in den genossenschaftlichen Siedlungen oder mit grossen Wohnblöcken, um die Macht der Arbeiterschaft zu demonstrieren. Daneben etablierten sich auch Genossenschaften für bürgerliche Kreise, für Lehrer oder Beamte.
Wohnqualität – inklusive Bad und Heizung
Es war aber ohne Zweifel das Verdienst der ersten Wohnbaugenossenschaften, dass sie für die damalige Zeit Häuser von hervorragender Qualität erstellten: Oft waren es geräumige und helle 3-Zimmer-Wohnungen, durchweg mit Bad und Toilette, die meisten sogar mit einer Zentralheizung.