Sieben Jahre ihres Lebens verbrachte Colleen Stan in einer sargähnlichen Holzkiste. Nackt, im Dunkeln, allein. Man nannte sie später auch das Mädchen aus der Kiste. Bloss eine Stunde am Tag liess ihr Entführer Cameron Hooker sie ans Licht. Liess sie ihre Notdurft verrichten, eine Schale Reis essen. Quälte und peinigte sie.
Was treibt einen Menschen zu solch einer Gräueltat? Warum verspürt jemand das Bedürfnis, einen anderen Menschen während Jahren einzusperren und zu schänden? Warum gibt es Quäler, Erniedriger, Sadisten? Warum gibt es böse Menschen?
Serienkiller, Sektenführer, Kannibalen
Professor Dr. Borwin Bandelow von der Psychiatrischen Universitätsklinik Göttingen glaubt auf eine mögliche Erklärung gestossen zu sein. In seinem neuen Buch «Wer hat Angst vorm bösen Mann: Warum uns Täter faszinieren» kommen sie alle vor, die wirklich Schrecklichen: Serienkiller, Kannibalen, Sektenführer, Terroristen.
Bandelow beschreibt Fälle, die er selbst behandelt hat. Und er berichtet über Täter und Opfer, die ihm Red und Antwort gestanden sind: zum Beispiel eine frühere Geliebte des Serienmörders Jack Unterweger und ein überlebendes Opfer des Kannibalen Jeffrey Dahmer.
Aber er behandelt auch den Fall Kampusch, Josef Fritzl natürlich, Anders Breivik taucht auf und Andreas Baader von der RAF. Auch Hitler und Stalin kommen vor. Die Spannweite der Fälle ist gross. Zu gross. Das verwirrt zuweilen. Wenn die Auswahl beliebig erscheint.
Fressen, Saufen und guter Sex
Bandelows These ist simpel: Böse Menschen leiden an einem Mangel an Endorphinen. Im «gesunden» Hirn fliesst das Wohlfühlhormon wie von selbst. Dann, wenn wir den angenehmen Seiten des Lebens frönen: Beim Essen, Trinken und beim Sex. Im «bösen» Hirn aber, ist dieses System gestört. Antisoziale Menschen leben in einem Zustand konstanten quälenden Unwohlseins.
Und wenn das Hirnsystem nicht genügend Endorphine bekommt, reagiert es wie eine ausgehungerte Hyäne: Die Täter suchen nach einem anderen, einem grösseren Endorphin-Kick. Verstossen ohne Rücksicht auf Verluste gegen alle Regeln der Gesellschaft und trachten nach Macht. Denn Macht ist das Elixier, das richtig viel Endorphin produziert.
Macht macht Endorphine
Wenn ein Täter also Macht über sein Opfer ausüben kann, dann erst fühlt er sich wohl. Und dieses Täter-Opfer-Abhängigkeitsverhältnis herzustellen gelingt antisozialen Persönlichkeiten erschreckend gut, stellt Bandelow fest. Denn Täter haben – obwohl sie schlecht, egoistisch, gefährlich, niederträchtig und abscheulich handeln und dabei keine Empathie, keine Reue, kein Bedauern zeigen – die besondere Fähigkeit, andere Menschen in ihren Bann zu ziehen, sie zu brechen und für ihre narzisstischen Zwecke zu missbrauchen.
Das Stockholm-Syndrom
Ihre Opfer befällt das «Stockholm-Syndrom». Dieser Begriff beschreibt das psychologische Phänomen, dass sich Opfer in Täter verlieben. Es ist benannt nach einem Geiseldrama in Stockholm im Jahr 1973, bei dem die Geiseln mit den Entführern sympathisierten. Bandelow erklärt auch dieses Kuriosum biochemisch: Es handelt sich um einen Schutzschalter im Hirn. Dieses schraubt seine Funktionen in bedrohlichen Situationen auf das Niveau eines Tieres zurück, auf den Überlebenstrieb: «Der Täter hat mich zwar in diese Situation gebracht, aber er ist jetzt mein Ernährer, also fange ich ihn an zu lieben.»
Für das Opfer ist dieser Mechanismus oft die einzige Chance, das Martyrium zu überstehen. Bandelow schreibt:
«Genauso wie bei Menschen, die nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis alle ethischen Vorstellungen über den Haufen werfen und wie Kannibalen andere Mitreisende verspeisen um zu überleben, setzen auch bei Stockholm-Opfern höhere soziale und ethische Gehirnfunktionen aus. Alle Systeme werden auf die unterste Stufe des Reptiliengehirns gesetzt. Und dazu gehört auch die bedingungslose Hingabe zum Ernährer.»
Spannung auf Kosten der Stringenz
Fazit: Das Böse auf der Welt lässt sich mit der verzweifelten Suche nach dem Endorphin-Kick erklären. Kühn wirft Bandelow seine These ins Feld. Noch ohne wissenschaftliche Befunde, allein aufgrund seiner Erfahrung und Recherchearbeit. Eine erschreckend simple, vielleicht etwas gar vereinfachte, aber nicht unspannende These.
Leider lässt der Autor keine Möglichkeit aus, seinen Ausführungen eine Prise Spannung beizugeben. Bandelows Ambition war es, seine Leser nicht mit Wissenschaft zu langweilen. Man möge ihm diese hehre Absicht zubilligen. Nur leider geht die Spannung da und dort auf Kosten der Differenziertheit und Ernsthaftigkeit. Und das nicht nur, wenn der Autor nach dem Vorbild seiner recherchierten Fälle eine «Schnellanleitung für Gehirnwäsche» verfasst.