Sie sind keine Schwulenhasser. Im Gegenteil. Die Kritiker, die in Internetforen und Kommentarspalten gegen Alan Turings Begnadigung anschreiben, gönnen ihm die posthume Wiedergutmachung. Aber sie wünschen dasselbe auch jenen weiteren 75‘000 Männern, die in Grossbritannien seit 1885 bis in die späten 1960er-Jahre wegen des Verbots der Homosexualität verurteilt wurden. Kritisiert wird also nicht, dass Alan Turing begnadigt wurde. Für Unmut sorgt vielmehr, dass Turing bis heute das einzige homosexuelle Opfer des «Act 1885» ist, dem dies vergönnt ist. Es ist dies jenes Gesetz, das auch Oscar Wilde ins Gefängnis brachte.
Eine Petition für Turings Begnadigung
Der britische Justizminister Chris Grayling begründete Alan Turings Sonderbehandlung mit den Worten: «Die Begnadigung durch die Königin ist eine angemessene Anerkennung für einen aussergewöhnlichen Menschen.» Doch Kritikern wie dem Turing-Biografen Andrew Hodges gefällt diese Argumentation gar nicht. Sie monieren, dass der britische Staat nur Grosszügigkeit zeige, wenn es um einen nationalen Helden, einen grossen Gelehrten oder einen weltbewegenden Erfinder gehe. Alles Attribute, die zweifellos auf Alan Turing zutreffen. Aber Turing verdiene die Begnadigung nicht wegen seiner hervorragenden wissenschaftlichen Begabung, sondern ganz einfach weil er nichts Falsches getan habe.
Seit Jahren haben sich Wissenschaftler wie der populäre Physiker Stephen Hawking für Turings posthume Begnadigung eingesetzt. Zudem unterschrieben 37‘000 Menschen eine entsprechende Petition.
Turing der geniale Visionär
Alan Turing war tatsächlich einer brillantesten Köpfe des 20. Jahrhunderts. Er war ein begnadeter Vertreter der angewandten Mathematik. Schon in seinen Zwanzigern hat der 1912 geborene Turing Bahnbrechendes gedacht und formuliert. Er hat das Konzept der Computer-Software entwickelt, noch bevor es Maschinen gab, die sich damit hätten füttern lassen. Er war ein Vordenker der künstlichen Intelligenz.
Der britischen Öffentlichkeit aber ist er in erster Linie als Code-Knacker ein Begriff. Alan Turing war nämlich massgeblich daran beteiligt, dass es den Briten während des 2. Weltkriegs gelang, den Code der deutschen Marine-Funksprüche zu knacken. Davon wusste jedoch lange Zeit kaum jemand. Denn lange über das Kriegsende hinaus wurden alle Informationen zur Enigma-Verschlüsselungsmaschine der Nazis und deren Decodierung durch die Briten streng geheim gehalten.
Aber auch die wissenschaftlich-akademische Arbeit Turings erhielt nicht immer die verdiente Anerkennung. Denn Turing publizierte wenig und er unternahm auch nichts dagegen dagegen, wenn andere sich seiner Ideen bedient und ihn plagiiert haben. Trotz seiner bahnbrechenden Verdienste an der Universität und trotz seines Coups als junger Dechiffrier-Crack war Alan Turing nach Kriegsende ein Nobody. Was Alan Turing als Kryptologe im streng geheimen Entschlüsselungsprojekt geleistet hatte, wurde erst ab den 1970er-Jahren nach und nach bekannt.
Turing knackt den Nazi-Code
Mit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs hatte die britische Regierung unter Winston Churchill die klügsten Köpfe Grossbritanniens auf dem Landsitz Bletchley-Park zusammengezogen – 70 km von London entfernt. Bis zu 10'000 Menschen arbeiteten in diesem geheimen Zentrum der Code and Cypher School an der Entschlüsselung der Nazi-Funksprüche. In diesen riesigen Think-Tank floss das Wissen unterschiedlichster Fachleute. Ägyptologen arbeiteten mit Mathematikern, Physikerinnen mit Logikern Seite an Seite.
Alan Turing war 27 Jahre alt, als er nach Bletchley-Park kam. Er war der wichtigste Entschlüsselungsexperte und hatte den Auftrag, den besonders komplizierten Code der Marine-Funksprüche zu dechiffrieren. Das deutsche Kryptosystem Enigma war gefürchtet und galt als unknackbar. Turing suchte nach Mustern in den chiffrierten Nachrichten und hatte die geniale Idee, dafür Maschinen einzusetzen. Dazu hängte er der deutschen Enigma-Maschine nachgebaute Apparate aneinander und liess diese nach bestimmten Wörtern in den verschlüsselten Nazi-Botschaften suchen: Schlüsselwörter – wie zum Beispiel «Wettervorhersage» –, die mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten waren. 1944 gelang es Turing auf diese Weise, den Code der deutschen Marine zu knacken. Man schätzt, dass er damit den 2. Weltkrieg um mindestens zwei Jahre verkürzt und unzähligen Menschen das Leben gerettet hat.
Wegen Homosexualität chemisch kastriert
Doch das Bletchley-Projekt blieb Jahrzehnte lang Verschlusssache und Alan Turing in der Öffentlichkeit ein Nobody. Daher setzte sich auch niemand für ihn ein, als er 1952 wegen seiner Homosexualität vor Gericht gestellt wurde. Nach der Verurteilung stellte man ihn vor die Wahl: Gefängnis oder chemische Kastration. Er entschied sich für Letzteres. Die Behandlung mit dem weiblichen Sexualhormon Östrogen beschrieb er, der aus seiner Homosexualität nie ein Geheimnis gemacht hatte, als schrecklich und demütigend. Zwei Jahre später nahm sich Turing das Leben.
Alan Turings Biograf Andrew Hodges bringt Turings Suizid in einen direkten Zusammenhang mit der Verurteilung. Zum einen litt Turing an Depressionen, wie sie im Zusammenhang mit Hormontherapien auftreten. Doch viel wichtiger scheint Hodges die Tatsache, dass Turing mit der Verurteilung seine so genannte Clearance verlor, seinen Unbedenklichkeits-Status. Er durfte nicht weiter für den Geheimdienst arbeiten und wurde stattdessen selber zum Überwachten, weil er extrem viel über die geheimen Programme der Regierung wusste. Auch die USA boten ihm keinen Ausweg, um seine Software-Ideen weiterzutreiben. Dort war im Zug der legendären Mc-Carthy Ära der 1950er-Jahre die Homosexuellen-Verfolgung in vollem Gang war.
Überwacht und in seinem Privatleben immer mehr eingeschränkt, sah Alan Turing offenbar keine Perspektiven mehr für sein Leben. Kurz nachdem ein norwegischer Freund, der ihn besuchen wollte, an der Einreise nach Grossbritannien gehindert wurde, vergiftete sich Alan Turing 42-jährig mit Zyanid.