Wir wissen nicht, was der Tod ist. Ist es überhaupt sinnvoll, über etwas nachzudenken, über das wir nichts wissen können?
Héctor Wittwer: Wir wissen sehr wohl, was der Tod ist: nämlich das Ende des Lebens! Darüber hinaus gibt es meiner Meinung nach sehr gute Argumente für die Vorstellung, dass der Tod das vollständige und endgültige Ende des Lebens ist. Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele oder an die Auferstehung lässt sich philosophisch nicht rechtfertigen. Dementsprechend glaube ich auch nicht daran.
Jetzt weiss ich aber immer noch nicht, was der Tod ist.
Sie gehen vermutlich von der Annahme aus, dass wir nur dann wüssten, was der Tod ist, wenn wir uns vorstellen könnten, wie es ist, tot zu sein. Da aber mit dem Tod die Fähigkeit, sich irgendetwas vorzustellen verloren geht, ist es überhaupt nicht ‘irgendwie’ tot zu sein. Übrigens unterstellen wir immer dann, wenn wir den Tod eines Menschen bedauern oder einen Mord moralisch verurteilen, dass wir zumindest eines über den Tod wissen: Er ist meistens etwas Schlechtes. Wir können aber nur dann wissen, dass der Tod schlecht ist, wenn wir auch wissen, was er ist. D. h. was ihn wesentlich ausmacht.
Der griechische Philosoph Epikur sagte, der Tod gehe uns nichts an. Wie kam er darauf?
Epikur behauptete nicht, dass uns der Tod nichts angehe. Vielmehr heisst es bei ihm wörtlich: «Der Tod ist nichts für uns.» Damit meinte er: Weil niemand seinen eigenen Tod erleben kann, ist der Tod für den Menschen, der stirbt, gar nie erlebbar. Das ist die erste Voraussetzung seines Arguments. Zweitens ging Epikur davon aus, dass nur das für einen Menschen gut oder schlecht sein kann, was dieser Mensch irgendwie erleben kann. Verbindet man diese beiden Ideen, dann ergibt sich, dass für keinen Menschen sein eigener Tod gut oder schlecht sein kann. Und weil es unvernünftig wäre, etwas zu fürchten, was nicht schlecht sein kann, ist es Epikur zufolge unvernünftig den eigenen Tod zu fürchten.
Hat Epikur recht?
Einerseits hat Epikur recht damit, dass weder das Ereignis des Todes noch der Zustand danach an sich schlecht für den Verstorbenen sein können. Und zwar deshalb nicht, weil niemand seinen eigenen Tod erleben kann.
Andererseits haben verschiedene Philosophen zu Recht darauf hingewiesen, dass das Schlechte am Tod nicht das Ende des Lebens selbst oder der Zustand danach ist. Vielmehr ist der Tod deshalb in der Regel ein Übel, weil er eine mögliche Lebensspanne verhindert.
Das Schlechte am Tod ist also, dass er Menschen der Möglichkeit beraubt, Dinge zu erleben und zu tun, die sie gern erlebt und getan hätten. Weil Epikur diesen Aspekt nicht berücksichtigt hat, ist seine Beurteilung des Todes unvollständig und insofern auch falsch.
Verdrängen wir in unserer Gesellschaft den Tod?
Obwohl viel über den Tod geredet wird, glaube ich, dass wir den Gedanken an den jeweils eigenen Tod tatsächlich meistens verdrängen. Das müssen wir auch, weil es unmöglich sein dürfte, ein glückliches oder zumindest zufriedenes Leben zu führen, wenn man sich ständig vor Augen führte, dass man sterben wird.
Warum haben Sie sich als Philosoph gerade ein so düsteres Forschungsthema wie den Tod ausgesucht?
Am Beginn meiner wissenschaftlichen Arbeit stand die Beschäftigung mit der Selbsttötung. Nach und nach weitete sich mein Arbeitsgebiet dann aus: So habe ich mich etwa für die Frage interessiert, ob die technische Verlängerung des menschlichen Lebens wünschenswert ist. Und ich habe untersucht, was man mit dem menschlichen Leichnam machen darf. Darf man sie zum Beispiel als Crashtest-Dummies in der Automobilindustrie verwenden, ohne dass der Verstorbene zu Lebzeiten zugestimmt hätte? Schliesslich habe ich mich der Philosophie des Todes zugewandt.
Und was genau interessiert Sie heute daran?
Bei der Philosophie des Todes handelt es sich um ein Thema, das nicht nur von theoretischem Interesse ist, sondern unsere Lebensführung betrifft. Beispielsweise können sich philosophische Einsichten darüber, ob und warum der Tod etwas Gutes oder Schlechtes sein kann, oder darüber, ob eine Fortexistenz nach dem Tod möglich oder unmöglich ist, darauf auswirken, wie jemand sich zu seinem eigenen bevorstehenden Tod verhält. Darüber hinaus habe ich den Eindruck, dass in der Philosophie noch immer viele falsche Thesen über Tod und Sterblichkeit vertreten werden. Deshalb gibt es auf diesem Gebiet noch viel zu tun.
Was möchten Sie als Philosoph noch herausfinden zum Thema Tod und Sterben?
Beispielsweise suche ich noch immer nach überzeugenden Argumenten für die Annahme, dass man Menschen auch nach ihrem Tod schaden kann, z. B. indem man sie verleumdet. Auch die Frage, ob unser Leben absurd ist, weil wir alle einmal sterben müssen, beschäftigt mich noch immer.
Der amerikanische Philosoph George Santanyana schrieb einst, dass «eine gute Art, das Kaliber einer Philosophie zu ermitteln, zu fragen ist, was sie über den Tod denkt.» Stimmen Sie ihm zu?
Nein. Die Philosophie ist ein weites Feld, und die Philosophie des Todes nur eine kleine Parzelle darauf. Es gibt viele andere ebenso wichtige Gebiete der Philosophie, wie etwa die Erkenntnistheorie, die Metaphysik oder die Ethik. Deshalb spricht es meiner Meinung nach nicht gegen bestimmte Philosophen, dass sie sich kaum mit dem Tod beschäftigt haben. Beispielsweise haben sich Aristoteles, Descartes, Kant und Wittgenstein nur beiläufig über den Tod geäußert. Aufgrund ihrer überragenden Leistungen in anderen Bereichen der Philosophie wird ihre Bedeutung für die Geschichte der Philosophie dadurch nicht geschmälert. Was mich betrifft, kann ich aber sagen: Ich finde das Philosophieren über den Tod äusserst anregend!