Wieder sind vernichtende Urteile zu lesen. Die Soziologin Necla Kelek durfte in der NZZ ganzseitig ihre fundamentale Ablehnung des Islam ausbreiten, als Gastbeitrag. Darin kommt sie zu einem Schluss, der radikaler nicht sein könnte: Der Islam sei «als Religion gescheitert».
Das ist an Heftigkeit und an überschiessender Pauschalisierung nicht zu überbieten. Es ist als Symptom zu lesen – als Symptom für die Ansicht nämlich, «der Islam» sei als monolithische Religion zu fassen, die in ihrem Kern zu wenig moralische Werthaltung besitze, um Gewalt und Terror zu unterbinden.
Selektive Koran-Lektüre
Ins selbe Horn blasen jene Autoren, die davon ausgehen, es habe in der islamischen Welt keine «Aufklärung» im westlichen, abendländischen Sinne stattgefunden. Sie suggerieren, dass hier eine Religion in der Gedankenwelt eines (wie auch immer gearteten) finsteren Mittelalters verharre.
Eine Argumentation, die das Fundament bietet für all jene, die wie der Komiker Andreas Thiel den Koran auf jene Stellen abklopfen, die ihnen den Beleg dafür liefern, dass im Heiligen Buch so etwas angelegt sei wie der ständige Aufruf zum Dschihad.
Es wäre ein Einfaches, in der christlichen Bibel ganz ähnliche Stellen zu finden, wenn man sich denn die Mühe machen wollte.
Die missachtete Diskussion
Solche Ansätze lassen nicht nur böswillige Absichten erkennen. Sie verkennen auch, in kolonialistischer, arroganter Weise, dass es innerhalb der islamischen Welt durchaus Diskussionen und Debatten über die eigene Religiosität gibt. Über eine engere oder liberalere, über eine tolerante oder ausgrenzende Auslegung der Schrift.
Jasmin El-Sonbati, Mitbegründerin des Forums für einen fortschrittlichen Islam, ist ein Beispiel dafür. Sie setzt sich, zuletzt in einem Kommentar in der NZZ, entschieden dafür ein, dass der muslimische Mensch «für sich selber zu denken» lernt, sich befreit von «religiöser Bevormundung» durch islamische Prediger, die einen Islam von «Gewalt, Intoleranz, Hass» propagieren.
Sie argumentiert hier als Muslimin, ebenso wie der Publizist und Autor Navid Kermani. Er tritt in seinen Schriften entschieden dafür ein, dass in den muslimisch geprägten Ländern «Freiheit, Würde, Chancengleichheit» hochgehalten werden. Ähnlich wie er für eine offene, tolerante und anerkennende Form von Religiosität eintritt.
Auch Muslime wollen Freiheit
Solche Positionen, wie sie von El-Sonbati oder Kermani vertreten werden, als Debatten «ausserhalb des Islams» zu bezeichnen, verkennt die Vielfalt muslimischer Blickwinkel.
Sie verkennt auch den Willen von Millionen Menschen, die mit dem «arabischen Frühling» etwa in Tunesien nicht nur einen verhassten Diktator aus dem Amt jagten. Sie bekämpften ebenso heftig (was Tunesien angeht, auch erfolgreich) den Machtanspruch totalitärer islamischer Parteien, indem sie deren Legitimität in Abrede stellen.
Verunglimpft und verhöhnt
Es ist das Verdienst von Intellektuellen wie Samuel Belhoul, darauf hinzuweisen, wie sehr der Islam und der Prophet Mohammed im Laufe der abendländischen Geschichte verunglimpft und verhöhnt wurden.
Nicht erst seit den Mohammed-Karikaturen wird der Prophet als «Kriegstreiber» dargestellt. Bereits der französische Philosoph Voltaire habe ihn als «skrupellosen Machtmenschen» bezeichnet, sagt Samuel Belhoul.
Er wies darauf hin, dass man im Laufe der Geschichte dem Propheten aus der Perspektive des Westens alles Mögliche vorgeworfen habe, zuletzt auch Homosexualität, eine Provokation, «die für einen Muslim kaum zu toppen» sei.
Wenn Selbstläuterung pervertiert wird
Die Gewaltvorwürfe, die negativen Zuschreibungen an die Adresse des Islam haben eine lange Geschichte. So wird denn auch nachvollziehbar, wenn der «Daesh» oder der «Islamische Staat» sich heute alle Verhöhnten zunutze macht und die Radikalisierung vorantreibt. Der Dschihad ist eigentlich eine Form der Selbstläuterung, eine Arbeit an sich selbst. Diese wird pervertiert – zu einer Selbstläuterung durch Gewalt.
Darin liegt, wie der Konfliktforscher Albert A. Stahel in einem Beitrag schreibt, die eigentliche Tragik des Geschehens. Tragisch deshalb, weil der Westen dem religiös-ideologischen Überbau der Terrororganisation auf den Leim geht, indem er sie als (einzige) Repräsentation des Islam verklärt.
Saddams verbitterte Offiziere
Dabei wird vor allem eines verdeckt: Der «Daesh» rekrutiert sich vor allem aus Offizieren der ehemaligen Armee Saddam Hussein: enttäuschten, verbitterten Offizieren, die nach der Invasion der USA im Irak keine Perspektive mehr für sich sahen.
Sie sind das unmittelbare Produkt des missglückten «Kriegs gegen den Terror». Sie haben nichts anderes getan, als sich des nächstliegenden, möglichst brachialen Weltbildes zu bedienen und es religiös zu untermauern, um ihren territorialen Herrschaftsanspruch notdürftig zu legitimieren. Mit dem weitherum, in vielen Ländern dieser Welt gelebten, praktizierten Islam, hat das herzlich wenig zu tun.