Der Soziologe Harald Welzer ist immer für eine pointierte Meinung gut. Doch was bei anderen allein dazu dient, Aufmerksamkeit zu erregen, ist dem scharfzüngigen Intellektuellen ein echtes Anliegen. Dass der Mensch – um mit Rousseau zu sprechen – zwar frei geboren ist, und doch überall in Ketten liegt, ist für ihn nicht hinzunehmen. Die Ketten der westlichen Gesellschaft sind allerdings nicht mehr die politischen Herrschaftsstrukturen des 18. Jahrhunderts, sondern subtile Unterwanderungen individueller Freiheit, die sich in der verborgenen Welt von Big Data abspielen.
Beiträge zum Thema
- Big Data: Wie frei ist das Internet? (Reflexe, 7.1.2014
- Aus der «schönen neuen Datenwelt» (Kulturplatz, 25.9.2013)
- Wer profitiert von Big Data? (Sternstunde Philosophie, 22.12.13)
- Über die digitale Revolution (Sternstunde Philosophie, 15.3.2015)
- Was Big Data mit dem digitalen Ich anstellt (Kontext, 10.12.2013)
Unsere Autonomie ist bedroht
Harald Welzer attestiert unserer digitalisierten Welt totalitaristische Tendenzen. Das Internet als kolossale Datenspur, mangelhafter Datenschutz und Internetkonzerne, die jenseits von nationalem Recht agieren, untergraben Welzer zufolge unsere Autonomie. Denn werden die gespeicherten Daten mit persönlichen Profilen von Krankenkassen oder staatlichen Informationsquellen kombiniert, ist der gläserne Bürger nicht weit. Harald Welzer ruft deshalb gemeinsam mit dem in Berlin lehrenden Philosophen Michael Pauen im Buch «Autonomie. Eine Verteidigung» dazu auf, die Bedrohung unserer Freiheit endlich anzuerkennen, um sie mit zivilgesellschaftlichem Engagement zurückzufordern.
Wir lieben Daten!
Welzer und Pauens These kondensiert ein Unbehagen, das unsere digitale Gesellschaft seit Jahrzehnten wie ein Schatten begleitet, zu einer Streitschrift. Sie lohnt die Lektüre vor allem, weil sie aufzeigt, wie die Idee der Selbstbestimmung historisch gesehen erkämpft und immer wieder neu verteidigt werden musste. Doch weshalb sind ähnliche Warnrufe bis anhin meist wirkungslos verpufft? Eine mögliche Antwort ist fast schmerzhaft simpel: weil wir Daten lieben.
Bei dieser Liebe setzt der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski in seinem glänzenden Essay «Data Love» an, der Ende letzten Jahres erschienen ist und von den Feuilletons sträflich wenig gewürdigt worden ist. Simanowski gelingt es nämlich in vorzüglicher Weise, das Thema nicht in einem negativen Grundtenor anzugehen, sondern bei der Faszination für die Datenwelt anzusetzen.
Denn nur dank der Akkumulation von Daten finden wir unseren Weg Hand in Hand mit dem Smartphone, kennt das World Wide Web unsere Schuhgrösse und kriegen wir das Sparangebot direkt in die Mailbox gespült. Wer den Zauber der Daten nicht anerkennt, operiert kulturpessimistisch – was jederzeit erlaubt ist, aber dem Verständnis der Sache wenig dienlich.
Eine heikle Liebesbeziehung
Simanowksi begeht in seiner Studie einen anderen Weg: Er versucht, die «heikelste Liebesbeziehung des 21. Jahrhunderts» zu verstehen und tritt eine Reise an durch die Post-Privacy-Ära ins Silicon Valley durch die Panoptiken des Internets. Er zeigt auf, inwiefern der Datenhype mehr ist als die Faszination des Numerischen, sondern die Geburt neuer Kulturtechniken.
Auch er endet mit den grossen Dystopien der digitalen Welt, doch versucht er sie zu deuten als das, was sie eigentlich wären: Appelle ans Gewissen, den Lauf der Dinge aufzuhalten. Damit mündet Simanowskis Band in eine ähnliche Aussage wie der Band von Welzer und Pauen. Zwei wirklich kluge Bücher zum vielleicht wichtigsten Thema unserer Zeit.