Die Leute grüssten sie nicht mehr auf der Strasse, ihre Familie brach jeglichen Kontakt ab: Als Barbara Kohout keine Zeugin Jehovas mehr war, war jegliche Freundschaft beendet. Liebe bekam sie nur als Zeugin Jehova. Barbara Kohout musste ein neues Leben anfangen. Sie fühlte sich wie in einem luftleeren Raum, denn ihr altes Leben war nicht mehr, im neuen war sie aber noch nicht angekommen.
Das Gefühl, manipuliert zu werden
Barbara Kohout begann so viel zu lesen, wie sie konnte. Sie machte sich im Internet auf die Suche nach anderen Aussteigern. All dies war ihr zuvor nicht erlaubt gewesen. Sie merkte, dass die letzten 60 Jahre nicht verlorene Jahre gewesen waren. Sie konnte anderen Menschen beistehen, die ähnliches durchmachten. Trotzdem bleibt das Gefühl, manipuliert worden zu sein.
Barbara Kohout kam durch ihre Eltern zu den Zeugen Jehovas. Als Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien waren sie durch den Zweiten Weltkrieg desillusioniert und geschwächt. Die Zeugen Jehovas gaben ihnen neue Hoffnung. Zudem waren die Zeugen Jehovas auch nicht am Krieg beteiligt gewesen und kamen wegen Dienstverweigerung sogar in Konzentrationslager. Dies beeindruckte die Eltern – und Tochter Barbara liess sich davon anstecken. Sie glaubte, nun die Wahrheit zu kennen. Als armes Flüchtlingskind gab ihr das ein Gefühl der Überlegenheit.
Rettung nur für Zeugen Jehovas
Die Zeugen Jehovas haben den Anspruch, als einzige Religionsgemeinschaft die Wahrheit zu kennen. Sie glauben, dass einzig die Zeugen Jehovas in der bald nahenden Endzeit gerettet werden. Dort werde Gott eine Schlacht anführen, wobei alles Böse zerstört würde.
Die Zeugen Jehovas sind eine christliche Gemeinschaft. Sie benutzen aber eine eigene Bibelübersetzung, die sich teilweise stark von anderen Übersetzungen unterscheidet. Sie haben auch eine eigene Lehre: So feiern sie etwa keine Weihnachten oder Geburtstage, weil das nicht in der Bibel steht. Besonders in Kritik geraten ist ihre Ablehnung von Bluttransfusionen.
Die Zeugen feiern überall genau gleich
Um in der Endzeit gerettet zu werden, gab Barbara Kohout vollen Einsatz. Sie las unentwegt in den Schriften der Zeugen Jehovas, ging von Tür zu Tür um zu missionieren, leistete Freiwilligenarbeit, wo sie nur konnte. Das forderte sie stark. Sie hatte keine Zeit mehr für sich. Sie sagt heute: «Ich kannte mich selbst nicht mehr.»
Die Zeugen Jehovas sind weltweit sehr einheitlich. Überall auf der Welt singen sie die gleichen Lieder, lesen die gleichen Schriften, folgen den gleichen Regeln. Dabei wird das Leben im Detail geregelt. Wie man sich anziehen soll, mit wem man befreundet sein soll: Alles steht im «Wachturm», in der Zeitschrift der Zeugen Jehovas.
Georg Otto Schmid, Religionsexperte der evangelischen Informationsstelle Kirchen-Sekten-Religionen, bestätigt, dass die Zeugen Jehovas eine sehr uniforme Organisation sind. Doch es gebe Menschen, die genau diese Einheitlichkeit und die strengen Regeln suchen. Diese würden sich aufgehoben fühlen in der Gemeinschaft. Doch wer eigene Wege gehen will, gerät unter Druck.
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Da stimmt etwas nicht
Barbara Kohout hatte ab und zu Zweifel an den Lehren der Zeugen Jehovas. Sie fühlte sich mut- und energielos – auch, weil die versprochene Endzeit noch immer nicht eingetroffen war. Doch sie stürzte sich nur noch tiefer in die Lektüre von Zeugen-Jehova-Schriften. Erst ihr Sohn brachte sie zum Umdenken: Er hatte die Schriften genau studiert und begann Widersprüche zu entdecken.
So gaben die Zeugen Jehovas immer vor, sich nie an Kriegen beteiligt zu haben. Im Ersten Weltkrieg gab es aber Dokumente, die das Gegenteil bewiesen. Barbara Kohout und ihr Mann beschlossen, sich zurückzuziehen. Das wurde nicht lange geduldet. Die Zeugen Jehovas wollten wissen, was los war. Barbara Kohout beschloss, die Wahrheit zu sagen: Dass sie nicht mehr an die Lehre der Zeugen Jehovas glaubte.
Glauben nicht verloren
Daraufhin wurde sie ausgeschlossen, und ihr neues Leben begann. Bis heute hat sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter, alte Freunde hat sie verloren. Diese radikale Seite der Zeugen Jehovas ist für Religionsexperte Georg Otto Schmid problematisch. Doch Erwachsene seien frei in der Wahl ihres Glaubens. Anders ist dies bei Kindern: Sie haben sich nicht bewusst für eine Mitgliedschaft entschieden. Wenn später einmal Zweifel aufkommen, ist es besonders schwierig, sich aus diesem Umfeld zu lösen.
Barbara Kohout hat genau das geschafft. Sie hat sich ein neues Leben aufgebaut. Ihren Glauben hat sie dabei nicht verloren. Nur glaubt sie nicht mehr, dass Gott nur für eine Religionsgemeinschaft da sein soll. Gott sei doch für alle da.