Eigentlich wollte ich dieses Buch nicht lesen. Was wird das schon für ein Pamphlet sein, das von rechts aussen als «das beste Buch über Migration» gelobt wird? Und dessen Autor der «Weltwoche» als Kronzeuge der SVP-Politik gegen Einwanderung herhalten muss? Einige Lesestunden und ein Treffen später bereue ich keine Minute, die ich investiert habe.
«Die Debatte ist vollkommen vergiftet»
Sir Paul Collier ist Ökonom an der Blavatnik School of Government der Universität Oxford. Fast entschuldigend meint er: «Ich habe lange gezögert, dieses Buch zu schreiben. Denn die Debatte über Migration ist vollkommen vergiftet, und sie wird von Leuten geführt, die taub sind, wenn es um Fakten und Analysen geht.»
Er werde von allen Seiten attackiert: von Rechten wie von Linken, von Multi-Kulti-Träumern wie von Abschottungsfanatikern. So sehr, dass er manchmal zweifle, ob es richtig war, das Buch zu schreiben. Aber, so fügt er hinzu, das sei das Geschäft akademischer Forschung: Ideen und Erkenntnisse zu vermitteln, damit andere sie anwenden können.
Regeln wie in Kanada
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Seine radikalste Forderung betrifft das Elend an den Grenzen Europas. Collier will verhindern, dass tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, will Schlepperbanden das Handwerk legen. Wie? Indem konsequent alle Flüchtlinge, die illegal Europa erreichen, in ihre Heimatländer zurückgebracht werden. Ausgenommen sind diejenigen, die aus politischen Gründen aus ihrer Heimat fliehen müssen. Nur so kann der ungeregelte Zustrom von Migranten gestoppt werden.
Als Alternative zur momentanen Situation fordert er eine neue gemeinsame Einwanderungspolitik aller europäischer Staaten, vergleichbar mit dem Einwanderungsmodell in Kanada. Wer nach Europa will, soll sich in seinem Herkunftsland einem Aufnahmeverfahren unterziehen.
Dieses Buch bietet viel mehr als Provokation
Es ist diese Aussage, die von Gegnern wie Befürwortern politisch ausgeschlachtet wird. Doch diese These ist nur ein Bruchteil von Colliers Analyse der gegenwärtigen Migrationsströme. Seine Untersuchung ist weit komplexer.
Paul Colliers hat sich zeitlebens mit den ärmsten Ökonomien der Welt beschäftigt. 2007 suchte er in seinem Buch «Die unterste Milliarde» nach wirtschaftlichen Lösungen für die ärmsten Gesellschaften unseres Planeten. Davon rückt er auch in «Exodus» nicht ab: «Die grösste Herausforderung unseres Jahrhunderts besteht darin, dass die ärmste Milliarde Menschen den wirtschaftlichen Anschluss schafft. Wir müssen unsere Politik so organisieren, dass wir diesen Gesellschaften helfen, ihre Armut zu verlassen.» Dabei könne Migration ein wichtiger Faktor sein, wenn sie nicht zu viele Menschen betreffe und weder die Herkunfts- noch die Aufnahmeländer überfordere.
Migration kann auch für die Herkunftsländer schlecht sein
Collier nimmt in seiner Analyse auch die Perspektive der – meist armen – Herkunftsländer von Migranten ein. Er zeigt auf, wie Gesellschaften ausbluten, wenn zu viele Menschen das Land verlassen. Diejenigen, die sich von kriminellen Banden nach Europa lotsen lassen, seien oft die gut ausgebildeten, die es sich leisten können, tausende von Dollars an Schlepper zu bezahlen.
Dennoch bleibt Migration für Paul Collier ein wichtiger Impulsgeber, vor allem für die Aufnahmeländer. Denn Einwanderung verhilft Gesellschaften zu mehr Vielfalt, Kreativität und wirtschaftlicher Kraft. Aber auch das, schränkt er ein, habe seine Grenzen.
Er bricht als Betroffener Tabus
Was sein Buch lesenswert macht, sind die Irritationen. Politische Denkgewohnheiten und Reflexe torpediert Paul Collier konsequent. Er will keine Politik der offenen Tür für Migranten, gleichwohl zeigt er auf, wie unabdingbar Migration für die ökonomische Entwicklung ist. Er beschreibt, wie fragil und sensibel Gesellschaften auf zu viel Einwanderung reagieren können und weist diejenigen in die Schranken, die aufgrund von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus die Grenzen dicht machen wollen.
Dies tut er, weil Paul Collier selbst aus einer Einwandererfamilie stammt. Seinen Grossvater Karl Hellenschmidt zog es einst aus dem schwäbischen Ensbach ins britische Bradford. Als der erste Weltkrieg ausbrach, geriet der junge Karl ins Visier nationalistischer Briten. Er, der Deutsche, wurde als Spion denunziert, musste seine Familie vor einem rassistischen Mob schützen.
«Meine Familie hat erlebt, was es heisst, Opfer von Rassismus zu sein. Das ist in der Seele meiner Familie tief verwurzelt. Das wollen wir nie wieder erleben. Deshalb muss Einwanderung so stattfinden können, dass die Gesellschaft eine schrittweise Integration annehmen kann. Dann wird sie all die Einwanderer als positiven Beitrag zur Gesellschaft akzeptieren», lautet Paul Colliers Fazit der eigenen Familiengeschichte.
«Exodus» ist kein Buch für diejenigen, die nur ihr eigenes politisches Süppchen kochen wollen. Vielmehr sollte es Pflichtlektüre sein, für alle, die sich mit Fragen von Migration beschäftigen. – Es hat sich gelohnt, das Buch zu lesen und Sir Paul Collier zu treffen.