Wie ein Westernheld in einem von Gangstern besetzten kleinen Dorf im Wilden Westen ballert Keen in «Das digitale Debakel» die IT-Milliardäre des Silicon Valley nieder.
Libertäre «Räuberbarone» nennt er die Mark Zuckerbergs und Jeff Bezos dieser Welt. So hat, schreibt Keen, zum Beispiel die freie und selbständige Digitalisierung von Bildern durch jedermann den US-Fotogiganten Kodak in den Ruin getrieben. Das «Selfie» mit Smartphones und Tablets machte Foto und Kamera überflüssig. Über 50'000 Arbeitnehmer verloren ihren Arbeitsplatz. Rochester, die US-Stadt des Firmensitzes, ist heute nur noch eine verlassene Industrieruine.
Das Ende von Kunst und Kultur
Wütend beschreibt Keen, wie die Gratis-Musiktauschbörse «Napster» etablierte Musik-Labels genauso zerstört hat wie die Karriere vieler Musiker. Seit Anfang 2014 bietet «Popcorn Time» – eine Art Film-Napster – dezentrales und illegales P2P-Streaming von Filmen an. Damit zerstöre es die Filmindustrie langfristig genauso wie Napster die Musikproduktion, meint Keen.
Wenn Websites die Zeitungsinhalte anderer gratis ins Netz stellen, würden sie privatwirtschaftlichen Qualitätsjournalismus vernichten. «Das Internet bleibt eine Gratiskultur, in der Inhalte entweder verschenkt werden oder so billig sind, dass immer weniger Musiker, Schriftsteller, Fotografen oder Filmemacher von ihren Einnahmen leben können», stellt Keen schonungslos fest. Das Geschäftsmodell der IT-Milliardäre sei Piraterie. Das sei zu wenig Nutzern bewusst, so Keen.
Hemmungsloser Diebstahl am gläsernen Nutzer
Es treibt ihn schier zur Raserei, wie hemmungslos Amazon, Facebook und ihresgleichen in die Privatsphäre ihrer Nutzer eindringen und darauf ihre wirtschaftliche Monopolstellung aufbauen würden. Indem der Einzelne über die Nutzung von Facebook, Amazon und Google viele Daten über sich preisgebe, entstehe ein durchsichtiges Bild seiner selbst, seiner Interessen und Gewohnheiten. Der Albtraum einer Welt von gläsernen Nutzern und Bürgern, die von den IT-Giganten gelenkt und beherrscht werden, ist laut Keen Wirklichkeit.
Nur staatliche Regulierung kann helfen
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Das Buch «Das digitale Debakel» ist keine grundsätzliche Kapitalismuskritik. Es ist eine Polemik gegen die Auswüchse eines grenzenlosen digitalen Kapitalismus, der sich auch noch hinter der Fassade versteckt, eine angeblich bessere Welt zu schaffen. Seine irreführende und verführerische Verheissung lautet: Durch gleiche Mitbestimmung für alle, durch freies Teilen jedes Produkts und jedes Inhalts und durch Transparenz im Internet entsteht eine bessere Welt ohne Hierarchien, in der allen alles gleichermassen und gratis gehört. Das sei die grosse Lüge dieses digitalen Kapitalismus, so Keen.
Sein Buch ist eine mitreissende polemische Anklage. Als solche muss sie natürlich oberflächlicher sein als die subtileren gesellschaftlichen und politischen Analysen anderer bekannter Internetkritiker wie Evgeny Morozov oder Jaron Lanier. Am Ende können wohl nur staatliche Regelungen die Bürger und die Wirtschaft vor der hemmungslosen Zerstörungskraft des digitalen Kapitalismus schützen. Das macht diese anschauliche und engagierte Einführung eines IT-Unternehmers aus dem Silicon Valley mehr als deutlich.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt