Priester und Mönche sind Vorbilder. Sie vertreten eine Institution mit hohen moralischen Ansprüchen. «Jedes Mal, wenn ich mit einem Opfer zu tun habe, ist es für mich ein grosses Leiden», sagt Joseph Bonnemain. Er ist Sekretär des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» und selber Priester. «Die Übergriffe belasten während Jahrzehnten ein Leben und machen Menschen zum Teil krank», fügt er hinzu.
Die Schweizer Bischöfe riefen 2010 Opfer sexueller Übergriffe im kirchlichen Umfeld auf, sich zu melden. Rund 200 Opfer meldeten sich. 182 mutmassliche Täter wurden erfasst, lediglich 20 Strafverfahren gegen katholische Priester und Mönche in dieser Zeit eröffnet. Der Haken dabei: Viele Täter sind gestorben, die meisten Fälle verjährt.
Täter nicht identifizierbar
Eine weitere Schwierigkeit: Täter sind unauffindbar. Joseph Bonnemain präzisiert: «Sie sind aufgrund von spärlichen Angaben der Opfer nicht identifizierbar».» Er nennt ein Beispiel: «Das Opfer war ein kleines Kind, das nach 30 Jahren erzählt: ‹Es war ein grosser Mann, schwarz gekleidet, er hatte einen Hund.› Die Nachforschungen in der betreffenden Pfarrei ergeben: Damals waren dort ein Pfarrer, drei Kaplane und ein Aushilfspriester tätig. Mit Hilfe von Fotos, anderen Unterlagen und Angaben von älteren Pfarreiangehörigen versucht man, den Täter zu finden. Man kommt nicht weiter. Der Täter ist nicht identifizierbar.»
Klingt nach Ausrede. Der Kirchenjurist Bonnemain kontert: «Wir versuchen ehrlich und gründlich, das Möglichste zu tun und konsequent die Täter zu identifizieren und den Opfern beizustehen. Wir kommen manchmal an Grenzen.» Betroffene hingegen monieren «eine Kultur des Schweigens», die Kirche unternehme nicht genug.
Zusammenhang mit Zölibat «nicht stichhaltig»
Warum begehen Priester sexuelle Übergriffe? Gibt es strukturelle Begünstigungen? Joseph Bonnemain meint: «In der Vergangenheit ja: die Tabuisierung der Sexualität.» Heute sei das Thema Sexualität überall in der Öffentlichkeit präsent. Ein Zusammenhang mit dem Versprechen der Ehelosigkeit, mit dem Zölibat, ist für Joseph Bonnemain «nicht stichhaltig». Er argumentiert: «Viele andere, die nicht zölibatär leben, werden auch übergriffig.»
Ein Fonds für Opfer
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Anfang September 2015 will die Schweizer Bischofskonferenz einen Genugtuungsfonds für verjährte Fälle von sexuellen Übergriffen im kirchlichen Umfeld errichten. Einzahlen sollen die sechs Bistümer, die Ordensgemeinschaften und die staatskirchenrechtlichen Körperschaften.
«Ohne den Druck der Öffentlichkeit wären wir nicht so weit gekommen», gibt Joseph Bonnemain aus dem Bistum Chur unumwunden zu. Vorbeugen sei jetzt das Wichtigste. Sein Fachgremium schlägt den Bischöfen vor, in den Diözesen Präventions-Beauftrage zu bestimmen.
Keine schwarze Liste
Die Richtlinien «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischöfe wurden mehrfach überarbeitet. Sie sehen vor, dass bei Verdacht auf einen sexuellen Übergriff, eine kirchliche Strafuntersuchung eingeleitet und eine Strafanzeige erstattet werden muss. Wird ein Vergehen festgestellt, reichen die kirchlichen Sanktionen je nach Delikt von der Suspension, der Einschränkung der Arbeit mit bestimmten Personen wie Kindern bis hin zur Entlassung aus dem Klerikerstand.
Zu einer schwarzen Liste von Tätern konnten sich die Bischöfe nicht durchringen. Die Richtlinien bestimmen, dass ein lückenloser Informationsaustausch stattfindet, wenn ein Kleriker den Wirkungsort wechselt. Bei Mitarbeitern aus dem Ausland ist ein erweiterter Strafregisterauszug erforderlich. Opfer müssen auf die Möglichkeit einer Strafanzeige hingewiesen werden, bei Gefahr von pädophilen Wiederholungstaten gilt Anzeigepflicht.