In vielen ukrainischen Texten, auch im von Ihnen herausgegebenen Buch «Euromaidan», ist die Enttäuschung über Europa zu spüren. Sie sind derzeit in Berlin als Gast der Humboldt-Universität: Wie bewerten Sie die europäische Sicht auf die Ereignisse in Ihrem Land?
Jurij Andruchowytsch: Enttäuschend ist für mich vor allem, dass in Europa unsere Situation als eine Art geopolitischer Zweikampf zwischen Russland und dem Westen betrachtet wird. Man gesteht der Ukraine keine Subjektivität zu. Die ukrainische Gesellschaft hat diese Tagesordnung formuliert. Aus der Ukraine kommt die Initiative für diese Ereignisse.
Wir sind kein passives Spielzeug, mit dem diese zwei Seiten etwas bauen können. Beide Seiten reagieren überrascht, wenn die Ukrainer einen nächsten Schritt machen. Und dann reagieren sie auf ihre Art: Russland mit Hysterie und Aggression, der Westen mit immer mehr Zurückhaltung und Kälte, vor allem beim Thema EU-Beitritt. Die EU ist nicht bereit, den EU-Beitritt zu verhandeln…. Wie viele Jahre braucht die EU, um bereit zu sein? Sagt uns 1000 Jahre, dann stellen wir uns darauf ein, aber sagt uns bitte klar, wann ihr bereit seid.
Das hat was von einem Déjà-vu: Nach der Orangen Revolution gab es grosse Hoffnungen. Präsident Juschtschenko wurde überall sehr herzlich begrüsst. Im Bundestag applaudierten ihm die Abgeordneten stehend. Und dann: nichts. Keine klare politische Perspektive für die Ukraine, sondern Abgrenzung.
Sie kennen die Schweiz, haben als Gastautor 2011 während neun Monate in Zug und Lenzburg gelebt und geschrieben. Wie wirken die Erfahrungen nach?
Ich erinnere mich an die ersten Dezembertage in Kiew. Wir waren auf Maidan und bemerkten plötzlich, wie gut alles organisiert war und wie tadellos alles funktionierte. Es gab Leute, die Feuer machten, Ärzte, die Verletzte pflegten, andere kochten, boten Tee an, weitere sammelten Unterschriften für Petitionen und so weiter. Und da sagte plötzlich meine Frau: «Siehst Du, das sind keine Ukrainer hier, das sind Schweizer!»
Ich denke, diese Fähigkeit, dem Chaos etwas Konstruktives und Positives entgegenzustellen, ist in der Schweizer Gesellschaft sehr ausgeprägt. Dieses Bemühen, jedes Problem optimal zu lösen, hat mich beeindruckt. Ich schätze das Umweltbewusstsein in der Schweiz – dieser Versuch, die Umwelt freundlich zu beleben. Und natürlich auch die Freiheiten, die direkte Demokratie, die Tatsache, dass jeder Staatsangehörige unmittelbar über seinen Lebensstil und über sein Schicksal entscheiden kann.
In den ukrainischen Medien gibt es derzeit ein grosses Thema: Wir haben ja diesen hybriden Krieg im Osten, und da dient die Schweizer Armee als Vorbild. Es wird viel darüber geschrieben, wie die Streitkräfte in der Schweiz organisiert sind und wie sie funktionieren.
Ich habe in der Schweiz oft beobachtet, wie am Freitagnachmittag die Soldaten nach Hause strömen, uniformiert, mit ihren Maschinengewehren. Das hat mich irgendwie berührt. Diese Männer, die für einige Zeit wieder Soldaten werden. Ich bin überhaupt kein Militarist. Aber eines Tages kommt so etwas wie Krieg in dein Land. Ich habe einmal Schmiergeld bezahlt, damit mein Sohn nicht in die Armee gehen musste, das war in den 1990er-Jahren. Viele Ukrainer haben das so gemacht. Und jetzt müssen wir in dieser Stunde X, die wir nie erwartet haben, alles von Grund auf neu bauen, weil es diesen eskalierenden Konflikt gibt.
Man spürt, Sie sind ein sehr politisch denkender Mensch. Sie sind aber auch ein herausragender Schriftsteller. Halten Sie die politische Identität und das Schriftstellerische getrennt. Oder gehört beides zusammen?
Das gehört zusammen. Ich verstehe die Politik breiter als blosse Parteiarbeit oder parlamentarische Tätigkeit. Alles, was als Text veröffentlicht wird, ob Parole oder Metapher oder Gedicht, kann sehr politisch wirken. Die Künstler haben dieses besondere Privileg, sich politisch äussern zu können, ohne Politiker zu sein.
Die Auswirkung der schriftstellerischen Arbeit ist nicht so klar zu sehen wie die Folgen politischer Tätigkeit. Dort arbeitet man an einem Gesetz, man stimmt ab, und dann gibt es die Änderungen. Mit der Literatur ist das komplizierter. Der Schriftsteller operiert nicht mit einer Masse. Er spricht immer ganz persönlich. Auch jeder Leser ist eine einzelne Figur, eine Persönlichkeit. Es ist ein Dialog. Das wirkt natürlich anders, aber es wirkt auch politisch.