Das Klima zwischen Russland und dem Westen hat sich in den letzten Monaten deutlich abgekühlt. Was löst diese Entwicklung bei Ihnen aus?
Ulrich Schmid: Ich weigere mich, Angst vor Russland zu haben. Putins wichtigste Waffen sind im Moment nicht Atomsprengköpfe und Panzer, sondern Drohungen und nationalistischen Parolen. Nichts eint eine Nation so sehr wie ein gemeinsamer Feind.
Russland scheint durch sein Verhalten beweisen zu wollen, dass es nicht zu Europa gehört. Wie beurteilt das die russische Bevölkerung? Wie nahe steht sie Europa?
Es kommt darauf an, wen man fragt. Die Elite des Kremls pflegt im Moment einen stark anti-westlichen Diskurs, der etwa so klingt: «Russland ist eine einzigartige Zivilisation mit einem russischen Kulturkern, in der alle Religionen und Nationalitäten Platz finden.» Das ist eine Ausgestaltung der neuen eurasischen Staatsideologie.
Apropos eurasische Union: Es gibt Eliten, die Russland nicht als europa- oder asienzugehörig erachten. Vielmehr sprechen sie dem Land eine Sonderrolle zu.
Diese Eliten wollen, dass Russland einen eigenen Weg geht. Seit 2007 gibt es eine Kulturstiftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die russische Kultur in der Welt zu verbreiten. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch regierungskritische Eliten, die gegen diese neue eurasische Ausrichtung der russischen Kultur protestieren.
Neben der Differenzen zwischen Europa und Russland gibt es auch Verbindendes: den griechisch-römisch-jüdisch-christlichen Kontext etwa. Wie wichtig ist die gemeinsame Abstammung für Russland heute?
Für das Regime Putin ist der Westen der entscheidende Prestigeraum. Das hat man zum letzten Mal deutlich während der Olympiade in Sotschi gesehen. Auch in der Geschichte gab es immer starke verbindende Momente. Die russische Kultur ist aus der europäischen Adelskultur hervorgegangen. Im 19. Jahrhundert hat man hauptsächlich Französisch gesprochen in den russischen Kulturkreisen. Sogar während der Sowjetzeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist es zu einer Verwestlichung der Lebensstile gekommen. Man trägt im politischen Establishment nicht mehr Lederjacken, sondern den bürgerlichen Anzug mit Krawatte. Und die Volkskommissariate wurden in Ministerien umbenannt.
Dann würden Sie sagen, dass Russland historisch gesehen kulturell eindeutig zu Europa gehört?
Das fängt schon bei der Sprache an: Russisch ist eine indoeuropäische Sprache. Das sieht man daran, dass es die einzige Sprache in Europa ist, in der das Sandwich Butterbrot heisst. Der deutsche Einfluss war sehr stark. Die Deutschen waren in Russland die einzigen, die es sich leisten konnten, Butter auf das Brot zu schmieren.
Hinzu kommt die Religion: Russland gehört zum Ost-Christentum, versteht sich als Hüter des gesamten orthodoxen Christentums. Wenn wir die Literaturgeschichte anschauen, haben wir genau dieselben Epochen wie in den westlichen Literaturen. Zudem gab es zahlreiche deutsche Professoren an den russischen Unis – auch Schweizer. Und es gibt Verbindungen in der Bildenden Kunst. Die Avantgarde hat sich in Russland entwickelt und von dort aus ihren Siegeszug durch Europa angetreten.
Inwieweit hat denn die russische Kultur die westeuropäische Kultur beeinflusst?
Ein wichtiger Teil ist der russische Gesellschaftsroman, also Dostojewski, Tolstoj, Turgenew. Dem kann die deutsche Literatur nichts Vergleichendes entgegenstellen. Anfang des 20. Jahrhundert herrschte eine regelrechte Russlandbegeisterung. Ein Buch, das wie eine Bombe einschlug, war etwa Oswald Spenglers «Untergang des Abendlandes».
Dennoch scheint uns Russland fremd. Was trennt das Land letztlich vom Westen?
Da muss man vor allem den Bereich der Gesellschaftsordnung betrachten. Ich würde zwei Dinge nennen: Ersten die Rechtskultur, und zweiten die Sphäre der Öffentlichkeit. Russland kannte nie ein wirklich funktionierendes Rechtssystem. Deshalb werden heute persönliche Beziehungen, Bittschriften oder ökonomischer Druck als effizienter eingeschätzt als der Rechtsweg. Die Verfassung ist in Russland weitgehend Lyrik – und die Sphäre der Öffentlichkeit manipuliert.
Weder Russland oder der Westen können es sich leisten, sich dermassen zu entfremden.
Ja, aber es ist natürlich schon so, dass die aktuelle Situation auch rhetorisch überhitzt ist. Das sieht man daran, dass bei den aktuellen Sanktionen die Energieversorgungen Europas sorgsam ausgespart sind. Da sind Russland und Europa ganz stark aufeinander angewiesen. Deswegen ist es auch wahrscheinlich, dass sich die Phase der Konfrontation wieder beruhigen und man sich auf die gemeinsamen kulturellen Wurzeln besinnen wird.