Die finanzwirtschaftlichen Turbulenzen seit 2008 haben eine Welle von Büchern hervorgebracht, die dem Kapitalismus aus marxistischer Sicht begegnen. Man denke an «Warum Marx recht hat» (2012) von Terry Eagleton, an «Wo Marx recht hat» (2011) von Fritz Reheis und an David Harveys aktuelle Publikation.
Die Zeit ist günstig, um Marxsche Massstäbe an die Realität anzulegen. Obschon man im gleichen Atemzug hinzufügen muss, dass die Wählerinnen und Wähler der allermeisten Länder andere Schlüsse ziehen als Eagleton, Reheis, Harvey und Marx.
Widersprüche des Kapitalismus
David Harvey analysiert den Kapitalismus mit dem klassisch marxistischen Skalpell, indem er dessen Widersprüche aufzeigt. Ein Beispiel: Der Mensch ist zugleich Konsument und Lohnarbeiter. Einerseits wäre es für die Wirtschaft vorteilhaft, wenn der Konsument sehr viel Geld ausgeben könnte. Als Lohnbezüger dagegen soll er nicht mehr als nötig verdienen, um der Unternehmensrechnung nicht übermässig zur Last zu fallen.
Ein anderes Beispiel: Konkurrenz belebe das Geschäft, lautet ein Grundsatz der Marktwirtschaft, sie sorge für bessere Produkte zu günstigeren Preisen. Doch in der Praxis führt der Wettbewerb nicht zu mehr Vielfalt, sondern zur Konzentration des Kapitals in sehr wenigen Händen. Dieser Akkumulationsprozess gibt Konzernen viel Macht, die zur Gewinnmaximierung verwendet wird. Die Menschen haben keine Möglichkeit, den Zwängen des Marktes zu entkommen.
Die Mehrwert-Zange namens Wohnraum
Das gilt besonders für den Immobilienmarkt. Wohnen muss man, daran führt kein Weg vorbei. Aber Wohnen kostet. Immer. Der Mensch steckt in der Zange fest. Denn überschüssiges Kapital wurde stets in den Umbau von Städten investiert. Aktuell zu sehen ist das etwa in europäischen Innenstädten, die gentrifiziert und durchoptimiert werden.
Zwar helfen Investitionen ganze Stadtviertel zu sanieren – im wörtlichen Sinn: «gesund machen» –, aber sie treiben die Preise für das essentielle Gut Wohnraum in unerschwingliche Höhen. Die weniger begüterte Bevölkerung wird zur Aussiedlung gezwungen. Das Stadtleben, das David Harvey als Allgemeingut versteht, wird vom Kapital verändert und vielleicht gar zerstört.
Der 80-jährige britisch-amerikanische Geograf schreibt flüssig, fundiert, fakten- und wirklichkeitsnah. Sein Buch liest sich gut, weil er Begriffe aus der Theorie stets erklärt. Ob all seiner Gedanken, die sich mit strukturellen Schwächen des Kapitalismus beschäftigen, vergisst er nie, dass es im «Kampf der Ideologien» um nicht weniger als den Menschen geht.
Alternative Ideen zum Kapitalismus vonnöten
Besonders eindrücklich manifestiert sich dieser humanistische Zug in Harveys Feststellung einer «Empathielücke» zwischen den Reichen und dem Rest der Bevölkerung: «Die Oligarchen verwechseln höheres Einkommen mit höherem menschlichem Wert und betrachten ihren wirtschaftlichen Erfolg als Beweis für ihr überlegenes Weltwissen (statt für das überlegene Wissen um Buchhaltertricks und Steuerschlupflöcher). Sie verschliessen ihre Ohren vor dem Elend dieser Welt, weil sie sich ihre Rolle in der Erzeugung dieses Elends nicht eingestehen können oder wollen.» Eine marode Verkehrsinfrastruktur ist ihnen egal. Um zur Arbeit zu pendeln, nehmen sie einfach den Hubschrauber.
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David Harvey will keine Revolution anzetteln, sondern über Wege nachdenken, wie die Welt anders zu organisieren wäre. Ohne Geld und Gewinne, ohne Machtkonzentration und Besitzanhäufung. Eine Welt, in der nicht bloss eine Elite das Sagen hat, sondern alle Menschen über ihr Schicksal und über den Lauf der Dinge mitbestimmen können.
Diese Vision mag utopisch wirken, sie ist teilweise harsch klassenkämpferisch formuliert, gewiss. Doch angesichts der wirtschaftlichen Instabilität, der globalen Ungleichgewichte und der weltweiten Armutsproblematik ist es unerlässlich, zum Kapitalismus alternative Ideen zu entwickeln.