Wolf Biermann ist ein Novemberkind – so wie auch viele von Deutschlands Schicksalsdaten im November liegen: Die Kapitulation im Ersten Weltkrieg 1918. Hitlers Putsch 1923. Die Pogromnacht im Dritten Reich. Und der Fall der Mauer.
Auch Wolf Biermann ist ein Stück deutsche Zeitgeschichte. Er war Sohn eines Kommunisten, der in Auschwitz umgebracht wurde. Deshalb schickte ihn seine Mutter 1953 – ausgerechnet als viele nach der gescheiterten Revolte vom 17. Juni 1953 aus der DDR nach Westen flohen – von Hamburg in die DDR.
«An die alten Genossen»
Als Sohn eines kommunistischen Märtyrers genoss er anfänglich Narrenfreiheit. Er konnte sagen: Dafür ist mein Vater nicht in Auschwitz gestorben. Er hatte den Anspruch, für den richtigen Sozialismus einzustehen.
Er war überzeugt, der Sozialismus sei richtig, nur machten ihn die Oberen in der DDR falsch. Und das sagte er auch. Von atemberaubender Frechheit und Wucht ist sein Gedicht «An die alten Genossen», das er 1962 in der Akademie der Künste vortrug und von dem eine Aufnahme existiert. Eine Radio-Trouvaille.
Ein halber Satz zu viel
Doch es gab Menschen, die protestierten vehement gegen Biermanns Ausbürgerung. Sie schrieben «Biermann hat re…» an die Wände und kamen dafür jahrelang ins Gefängnis. Auch zahlreiche DDR-Künstler formulierten 1976 einen Aufruf gegen den Rauswurf. Und es gibt Historiker, die darin den Anfang vom Ende der DDR sehen.
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Vielleicht war es eine Art 68er Bewegung à la DDR. Zumindest die Glaubwürdigkeit der DDR litt ein zweites Mal innert kurzer Zeit entscheidend. Das erste Mal begannen die ostdeutschen Intellektuellen am Sozialismus zu zweifeln, als die Armeen des Warschauer Pakts 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten.
Ein Provokateur
Ich treffe Biermann, um über seine Autobiographie zu sprechen. Er trägt eine Lederjacke. Natürlich, die Stimme ist tiefer geworden als die des jungen Biermann, der das Gedicht «An die alten Genossen» vorträgt. Aber er wirkt lebendig und jung.
Biermann liebt Sprache und reagiert sofort und mit Freude auf kleine Provokationen, selbst wenn sie seine Eitelkeiten pieksen. Aber als Schweizer geniesst man ohnehin eine gewisse Narrenfreiheit.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 15.11.2016, 06:50 Uhr