Manchmal begegnet einem Eleganz dort, wo man sie nicht unbedingt vermuten würde. Als wäre Eleganz ein Gut, das nur bestimmten Situationen, nur bestimmten Menschen vorbehalten ist – ein Luxus. Gibt es zum Beispiel in einem Altersheim Platz für Eleganz?
Das habe ich mich kürzlich gefragt, als ich meine Grossmutter im Altersheim zum Mittagessen besuchte. 98 Jahre alt ist sie. Und stets bemüht um eine elegante Erscheinung. Nichts Aufgetakeltes. Das wäre billig und nicht ihr Stil.
Vom Scheitel bis zur Sohle
Die frisch-gebügelte dunkelblaue Seidenbluse und die schwarze Stoffhose müssen sein. Dazu passen die Perlen-Ohrstecker, die sie schon so lange besitzt, dass ich mir meine Grossmutter ohne kaum vorstellen kann.
Neu dagegen ist eine kleine Brosche, die sie vor kurzem geschenkt bekommen hat und die sie mit ihren eigenen Händen nicht mehr anstecken kann. Für den filigranen Druckverschluss benötigt sie meine Hilfe.
Für die Auswahl der Schuhe dagegen nicht. Zwar sind das mittlerweile eher Modelle der praktischen Art – aber die farbliche Abstimmung auf Bluse und Hose lässt sich meine Grossmutter nicht nehmen.
Sich nicht gehen lassen
Ein letzter Kontrollblick in den Spiegel, an besonders trüben Tagen vielleicht noch einen Tupfer Rouge auf die Wangen. Dann zieht sie los mit ihrem Rollator – in den Ess-Saal des Altersheims.
Bei Tisch wird Konversation gemacht mit den Nachbarn, die Serviette auf dem Schoss und der Rücken gerade. Man darf sich doch nicht gehen lassen, nur weil man alt ist, schimpft sie manchmal über ihre Mitbewohnerinnen.
Und tatsächlich: Im Ess-Saal sticht meine Grossmutter heraus, fällt mir auf. Inmitten von grauen Jogginghosen und braunen Pullundern wirkt sie eigenartig overdressed, fast zu elegant für den Anlass. Doch Eleganz ist im Fall meiner Grossmutter ein letztes Stück Selbstbestimmung und Würde. Und das kann kein Luxus sein.
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Sommerserie: Eleganz
Sendung: Kultur kompakt, 21. Juli 2016, 7.20 Uhr