Dezember 1963: Der Krieg ist schon lange vorbei. Die Deutschen geniessen die Früchte des Wirtschaftswunders. Vor dem Frankfurter Schwurgericht wird in diesem Dezember aber eines der dunkelsten Kapitel der Kriegsgeschichte verhandelt – die Verbrechen im Vernichtungslager Auschwitz.
Dass sich Mitglieder der Lagermannschaft von Auschwitz fast 20 Jahre nach ihren Taten doch noch vor Gericht verantworten müssen, ist das Verdienst von drei Männern: Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt von Hessen, Hermann Langbein, Widerstandskämpfer und Überlebender des Vernichtungslagers Auschwitz und Henry Ormond, Jurist und ebenfalls ehemaliger KZ-Insasse.
Den Opfern Gehör verschaffen
Ormond vertritt seit den 1950er-Jahren die Opfer des Holocausts vor Gericht. «Sein Anliegen war, die Stimme der Opfer zu Gehör zu bringen», meint Werner Renz, Archivleiter des Fritz-Bauer-Instituts, das den Nachlass von Henry Ormond verwaltet.
Seit 1959 beschäftigt sich Ormond mit den Verbrechen in Auschwitz. Er will aus jedem Land, aus dem Juden nach Auschwitz deportiert wurden, symbolisch ein Opfer oder einen Angehörigen als Zeuge für den Prozess gewinnen. Das ist nicht einfach. Denn viele wollen nicht mehr deutschen Boden betreten.
Ormond hat die Lügen aufgedeckt
Ormond gibt nicht auf. Bestärkt hat ihn vermutlich auch seine Reise nach Polen. 1960 besucht er Auschwitz. Im Prozess wird es ihm gelingen, das Gericht davon zu überzeugen, drei Tage das Vernichtungslagers Auschwitz zu besuchen. Sein Ziel: Das Gericht soll sich vor Ort ein Bild davon machen, was die Angeklagten wirklich gesehen haben, was sie wussten und an was sie beteiligt waren. Mitte 1963 hat Ormond alle Nebenankläger zusammen. Sie kommen aus Israel, der Tschechoslowakei, Israel, Polen, USA, Rumänien, Schweden, den Niederlanden, Jugoslawien, Italien, Frankreich, Grossbritannien, Österreich und Deutschland.
Während des Prozesses versuchen die Angeklagten mit Lügen und Vertuschen, sich von ihrer Schuld an den Morden reinzuwaschen. «Doch Henry Ormond gelingt es, ihnen die Maske vom Gesicht zu reissen», sagt Werner Renz vom Fritz Bauer-Institut. Ormond habe die Lügen der Angeklagten aufgedeckt.
«Sie wussten, was sie an Auschwitz hatten»
Etwa, wenn die behaupten, sie hätten nur auf Befehl gehandelt. Und sie hätten gar nicht anders handeln können. Für Henry Ormond eine Lüge, ein Mythos. Er weist nach: Die Angeklagten hätten sich nie bemüht aus Auschwitz wegzukommen. Und sie hätten auch nicht versucht, sich dem Morden zu entziehen. «Sie wussten, was sie in und an Auschwitz hatten», so Henry Ormond in seinem Schlussplädoyer.
Das Töten von jüdischen, polnischen oder sonstigen «Untermenschen» habe der Mehrzahl der Angeklagten absolut nichts ausgemacht. «Sie erzählen Ihnen das hier nur, weil sie heute mit der Wahrheit genauso gewissenlos und verantwortungslos umgehen, wie sie damals mit den Menschen umgegangen sind.»
Was in Auschwitz wirklich passierte
Der Prozess wird für Ormond nicht einfach. Die meisten Verteidiger der Angeklagten gehen ihn massiv an. Er, Ormond, führe diesen Prozess nur aus Rachegelüsten, da er selber Jude sei, wird ihm vorgeworfen.
Nach zwei Jahren Prozess fällt das Urteil gegen die 17 Angeklagten. Die Strafen reichen von lebenslangem Zuchthaus bis zu milden dreieinviertel Jahren Gefängnis. Drei Angeklagte werden freigesprochen.
Henry Ormond hat sein Ziel erreicht: Im Prozess entlarvte er nicht nur die Lügen der Mörder von Auschwitz, sondern zeigte den Deutschen auch, was in Auschwitz wirklich passiert war. Das war es, was er und auch Fritz Bauer und Werner Langbein sich zum Ziel gesetzt hatten, als sie die Verbrecher vor Gericht stellten.