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Gesellschaft & Religion Erst der Schock, dann die Kreativität: Theater nach Fukushima

Erst reagierte die japanische Theaterszene kaum auf die Nuklearkatastrophe in Fukushima. Nun, zwei Jahre später, hat sich dies geändert: In der Japanischen Off-Theaterszene sind neue Formate hoch im Kurs – Kulturschaffende arbeiten gegen das Verdrängen.

Man dürfe nicht vergessen, dass es in Japan die Tradition eines politischen Theaters wie in Europa nicht gebe, erklärt Kyoko Iwaki in einem Szenecafé in Shibuya, einem der In-Stadtteile im Westen von Tokyo. Kyoko Iwaki ist Theaterjournalistin und lebt abwechselnd in London und Tokyo. Durch ihr Insiderwissen und den gleichzeitigen Blick von aussen ist sie eine ideale Vermittlerin der japanischen Kultur: 2011 hat sie in ihrem Buch «Tokyo Theatre Today» die sogenannt Kleine Theater Szene in Tokyo beschrieben, den Teil der Theaterlandschaft, den wir wohl freie Szene nennen würden.

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Kyoko Iwaki: Künstler agieren ausserhalb der Moral
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Während sich im grossen Feld des Entertainment das Theater durch Fukushima kaum verändert habe, hätten gerade die Theaterschaffenden dieser kleinen, freien Szene auf «3/11» reagiert, erzählt Kyoko Iwaki. «Allerdings nicht sofort. Als ich 2011 nach Tokyo zurückkam, war ich geschockt, wie wenig Fukushima im Theater ein Thema war. Doch ein Jahr später zeigte sich die Situation ganz anders – fast zwei Jahre nach der Katastrophe sehe ich viele Versuche, mit den Folgen von «3/11» auch auf der Bühne umzugehen.»

Hintergrund zum Artikel

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SRF-Theaterredaktorin Dagmar Walser hat von Oktober bis Dezember 2012 für eine Recherche über die gegenwärtige «Performing Art»-Szene mehrere Wochen in Japan verbracht. Dies auf Einladung von «Tokyo Culture Creation Project» und als Stipendiatin der Japanischen «Saison Foundation».

Verarbeitung jenseits von Sprache

Das «Festival/Tokyo» ist das grösste internationale Theaterfestival Japans. Die Festivalleiterin Chiaki Soma hat der letzten Ausgabe im Oktober/November einen klaren thematischen Fokus gegeben: «Going beyond words» hiess das Motto – und stellte sich damit der Frage, wie man eine neue künstlerische Sprache für das Lebensgefühl im Post-Fukushima-Japan finden kann.

Da gab es etwa einen kleinen Elfriede Jelinek-Schwerpunkt: Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin wurde zwar ins Japanische übersetzt, blieb aber doch weitgehend unbekannt. Kurz nach der Katastrophe vor zwei Jahren hatte sie ein Theaterstück zu Fukushima geschrieben: «Kein Licht».

Ein Jahr und einen Tag nach «3/11» hat sie diesem Text noch einen Epilog hinzugefügt. Darin zieht eine Stimme durch eine apokalyptische Landschaft und beschäftigt sich assoziativ mit grundsätzlichen Ängsten und Ahnungen.

Theater gegen das Vergessen

Der Theaterregisseur Akira Takayama hat diesen Fukushima-Epilog im Rahmen des Festivals in Szene gesetzt: als eine Performance, die das Publikum über zwölf Stationen quer durch den Stadtteil Shimbashi führt. In diesem geschäftigen Stadtteil im Süden Tokyos hat auch der Elektronikkonzern Tepco, der Betreiber der Atomkraftwerke in Fukushima Daiichi, sein Hauptquartier. Nicht weit davon entfernt liegt das Regierungsviertel, wo seit bald zwei Jahren jeden Freitagabend Anti-Atomkraft-Demonstrationen stattfinden, von den Medien weitgehend unbeachtet.

Shimbashi stehe für den wirtschaftlichen Aufschwung Japans in den 70er und 80er Jahren, erzählt der Theaterregisseur nach der Theatertour. «Nicht zuletzt für den Wohlstand und die Geschäftigkeit solcher Quartiere wurde in Fukushima Strom produziert.»

Dass Takayama sein Theater mitten im geschäftigen Alltag verortet, ist bezeichnend für seine Arbeit: «Viele haben den Schrecken, der Fukushima vor zwei Jahren in uns ausgelöst hat, wieder verdrängt oder vergessen. Es wäre einfach, heute wieder in den Alltag zurückzukehren, wie wir ihn in Tokyo vor ‹3/11› hatten.» Mit seiner Arbeit möchte er dagegen ansteuern: «Damit sich etwas verändern kann, ist es wichtig, dass wir die Unruhe von damals lebendig halten.»

Neue Kommunikationsräume schaffen

Vier weiss gekleidete Gestalten schreiten eine Treppe im Wald hinab.
Legende: Im «Kunisaki-Art-Project» führte die Theaterproduzentin Akane Nakamura das Publikum an mystische Orte. Kikuko Usuyama

Auch die Theaterproduzentin Akane Nakamuras versucht den Schrecken und den Schock, der die Katastrophe für sie bedeutete, als Antriebskraft zu verstehen: Sie ist in den Süden von Japan auf die Halbinsel Kyushu gezogen. Zuerst habe sie einfach der Gefahr der Radioaktivität entkommen wollen, es habe sie gereizt näher am asiatischen Festland zu wohnen: «Die Kultur ist ganz anders als in Tokyo. Ausserdem gibt es nicht so viel Kunsträume, durch die Rezession der letzten Jahre hat die Gegend an Ausstrahlung verloren.»

Im «Kunisaki-Art-Project» hat Nakamura zusammen mit dem Künstler Norimizu Ameya direkt mit der lokalen Bevölkerung zusammen gearbeitet. Kinder aus den umliegenden Dörfern führen das Publikum zu spezifischen Orten, in die mystischen Wälder und zu verlassenen Häusern – und erzählen ihre Geschichten und Zukunftsvisionen.

«Mich reizt es, die Kunst als Ort der Begegnung zu sehen, wo ein Dialog zwischen Künstlern und der lokalen Bevölkerung, zwischen Stadt und Land in Gang kommen kann – und Neues entsteht», sagt Akane Nakamura. Ihr Krisenbewusstsein über die japanische Gesellschaft sei schon vor «3/11» dagewesen, aber Fukushima habe ihr gezeigt, dass sie nun tatsächlich reagieren muss – um neue Räume für die Kunst zu schaffen, abseits des eingespielten Produktionszyklus in der Hauptstadt.

Fukushima als Antriebskraft

Es fallen unterschiedliche Strategien ins Auge, wie KünstlerInnen auf Fukushima reagieren: Ob sie «3/11» direkt zum Thema ihrer Arbeit machen, ob sie versuchen, Bilder und Räume für das veränderte Lebensgefühl zu finden oder, noch viel grundsätzlicher, die politischen und kulturellen Strukturen hinterfragen: Fukushima bleibt eine Herausforderung, auch in der Kultur.

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